Ein Essay von Pietro P. Altermatt
Ausgrabungen aus der Plastik-Episode
Neue Funde im hohen Norden enthüllen ungeahnte Details über Gesellschaften aus einer vergangenen kurzen Episode der Menschheit. Diese Phase ist heute als Plastik-Episode bekannt, weil damals bunter Plastikmüll in einer sehr jungen geologischen Schicht über den gesamten Globus verteilt hinterlassen wurde – sogar in den tiefsten Ozeanen. Neue elektronische Überreste eines Datenzentrums aus dieser Schicht zeigen ein detailliertes Bild der damals rasanten Veränderungen von Wissenschaft, Technologie, Landwirtschaft, Medien und der Unterhaltungsindustrie. Entschlüsselt wurden auch politische Narrative sowie Zeugnisse von teils gegensätzlichen Lebensstilen. In einigen Teilen der Welt wird viel Werbung nachgewiesen sowie ein atemberaubendes Konsumverhalten und ein immenser materieller Verbrauch. Doch waren die Menschen damals sich dem drohenden Zusammenbruch der Plastik-Episode bewusst?
Unter der Fülle von Informationen im Datenzentrum kam auch ein bisher – und wahrscheinlich auch damals – unbekannter Wissenschaftler namens Pietro Altermatt ans Tageslicht. Pietro hat auf LinkedIn gepostet. Aber das Besondere an diesem Fund ist, dass nicht nur seine Posts auf LinkedIn erhalten geblieben sind, sondern auch die verschiedenen Versionen, die er beim Schreiben gemacht hat, seine Forschungsmemos und persönlichen Notizen. Zum Beispiel hat er in seinen Notizen festgehalten, dass ihn Aussagen seiner Zeit wie die Folgende nicht nur langweilen, sondern auch Widerstand wecken:
"Der Klimawandel verschärft Dürren, Brände, Überschwemmungen und Stürme und beschleunigt den Anstieg des Meeresspiegels. Diese zunehmenden Bedrohungen erfordern sofortige globale Maßnahmen zur Emissionsverminderung und Anpassung."[1]
In der Tat ist diese Art von Text auch in anderen Datenzentren der Plastik-Episode in Millionen Versionen zu finden, meist als Einleitung, und Texte dieser Art haben das Publikum wohl nicht beeindruckt. Pietro stellt fest, dass A: nichts Neues darin zu lesen ist, B: die beschriebenen Katastrophen nicht die Auswirkungen auf uns Menschen vermitteln, C: „Emissionsverminderung“ zu abstrakt ist, um zum Handeln anzuregen, und D: „zunehmende Bedrohungen“ nicht wirklich das Ausmaß konkret benennt, geschweige denn ein Risiko dystopischen Ausmaßes einschließt. Pietro wollte den menschlichen Aspekt hinter den Begriffen hervorheben. Schließlich fügte er folgenden Abschnitt in seinen Post ein, wo er sich über Langzeit-Verträge für fossiles Gas beschwert:[2]
Andererseits verschärfen solche langfristigen Gasverträge Fakten wie:
Jeden Tag fliehen etwa 20.000 Kinder[3] und 70.000 Erwachsene vor Überschwemmungen und Stürmen, und es werden immer mehr, die dieses Schicksal erfahren müssen.
Doppelt so viele Familien haben mit akuter Ernährungsunsicherheit zu kämpfen wie noch vor einigen Jahren. 350 Millionen Menschen in 82 Ländern,[4] das sind mehr als 40 % der UN-Mitgliedstaaten, leiden unter zunehmenden Ernteausfällen und sich verschlechternden Versorgungswegen.
Die langfristigen Verträge für fossile Brennstoffe zielen offiziell auf eine „zuverlässige Energieversorgung“ ab,[5] tragen aber in Wirklichkeit zur Ressourcenknappheit bei und damit zu weitreichenden sozialen Unruhen. Märkte werden bröckeln, und viele von uns werden zu kämpfen haben, weil das lebendige Geflecht der menschlichen Zivilisation schwächer wird und vielleicht sogar zerfällt.
Hier „fliehen […] Kinder ... und […] Erwachsene“, und „doppelt so viele Familien […] haben zu kämpfen“. Und Pietro erwartete, dass der letzte Absatz eine größere Wirkung haben würde, weil er eine dystopische Möglichkeit ausmalt. Den letzten Punkt gab Pietro in die Text-zu-Bild-Software DALL-E ein, die damals verwendet wurde, und kam nach Editieren auf Abbildung 1.
Pietro merkte in seinen Notizen an: „Meine dystopischen Andeutungen sind vielleicht zu schwach, um der Leserschaft Eindruck zu machen. Aber zu entschlossen formuliert, zweifelt die Leserschaft an meiner Kompetenz.“ Vielleicht, weil es zu Pietros Zeit nicht genügend Anzeichen gab, um sich über zukünftige Ereignisse sicher zu sein. In der Tat deuten die bisherigen archäologischen Forschungen darauf hin, dass der Zerfall der Plastik-Episode recht zügig erfolgte. Es wird weiterhin darüber diskutiert, ob der Zerfall hauptsächlich durch Unterbrechungen der Lebensmittelversorgung beschleunigt wurde, was zu sozialen Unruhen in ärmeren Ländern führte, von denen die Weltwirtschaft stark abhängig war; oder ob die Lieferketten für Hochtechnologieprodukte wie Computerchips unterbrochen wurden, was die Wirtschaft bremste und zu politischen Umbrüchen in den Industrieregionen führte.
Pietro gefiel es, die Risiken als fortlaufende Prozesse zu formulieren: „[…] bröckelt […] wird schwächer“, weil er das Wort „Kollaps“ nicht mochte. Für ihn war Kollaps ein plötzliches Ereignis: jemand bricht auf der Straße zusammen und ist bewusstlos. Pietro nannte dies eine archäologische Zeitrafferansicht vom eigentlichen Zerfall. Archäologische Ausgrabungen seiner Episode zeigten bereits, dass sich viele komplexe Gesellschaften im Laufe der Zeit entwickelt haben und wieder zerfallen sind – Pietro waren über 80 davon bekannt. Er sortierte diese Gesellschaften in zwei Gruppen: einerseits Gesellschaften, die wesentlich aufgrund lokaler klimatischer Veränderungen zerfallen sind, und andererseits Gesellschaften, deren Zusammenbruch unabhängig von Klima scheint.[10] Pietro war bekannt, dass der Niedergang einer Gesellschaft wohl nie monokausal war, aber auch selten unausweichlich.[11] Der Niedergang war oft durch eine Mischung aus Klimawandel und weiterer Faktoren bedingt, wie Raubbau an Land, Wäldern und Fischgründen[12] oder sich ändernde soziokulturelle Normen und unfokussierte oder unverhältnismäßige Politik.[13] Pietro nannte in seinen Notizen Arbeiten, die beschrieben, wie der allfällige Niedergang der Plastik-Episode damals hätte verhindert werden können.[14]
Um den Niedergang zu vermeiden, war Pietro davon überzeugt, dass sich die Menschen seiner Zeit dem Risiko eines zumindest teilweisen Zerfalls stellen müssen. Pietro las ein Paper,[15] in dem renommierte Wissenschaftler*innen das Risiko eines klimabedingten Zusammenbruches der Zivilisation oder sogar Aussterben der Menschen analysieren. Es gab derartige Vorstöße – für Pietro schien allerdings unverständlich, wie wenig diese Gefahr diskutiert und wie umfassend sie verdrängt wurde. Er notierte: „Diesmal sind es nicht die Römer, die Mayas oder Angkor – da wir in einem globalen Netzwerk verwoben sind, könnten diesmal große Teile der Welt betroffen sein.“
Ernsthaft zu zweifeln beginnen
Wie kam es dazu, dass Pietro ernsthaft zu zweifeln begann, wie es in der Plastik-Episode weitergehen könnte? Er veröffentlichte einen Post auf LinkedIn, der uns einen Hinweis gibt:[16]
Heute ist ein sehr trauriger Tag für mich. Ich habe einige Monate lang berechnet, wie schnell erneuerbare Energien die CO2-Emissionen auf null bringen können. Nach vielen Versuchen habe ich gerade das 1,5-Grad-Ziel aufgegeben. Der schnellste Weg müsste sämtliche CO2-Emissionen bereits bis 2035 auf null bringen, nicht nur die Emissionen aus der Stromerzeugung. Ich bin traurig.
Ich gehöre zu den Optimisten, die an dem 1,5°C-Ziel festhalten – andere Wissenschaftler*innen haben es schon vor einiger Zeit aufgegeben. Ich habe meiner Signalgruppe von Klimaaktivist*innen geschrieben, ihnen meine Berechnungen von heute gezeigt (siehe unten) und gesagt: Wer mich trösten möchte, ist herzlich willkommen … Sie haben auf sehr nette Weise geantwortet. Empfahlen mir Musik, Sport, ein Buch zu lesen, Meditation, meine Wohnung aufzuräumen, zu kochen, sagten mir, sie glauben an überraschende Wendungen.
Ich habe Ratatouille für meine jugendliche Tochtergekocht, die bald nach Hause kommt. Ironischerweise sind mir einige Stücke verbrannt (das passiert mir normalerweise nicht). Ich dachte, ich müsste meinen Kummer verarbeiten, bevor sie kommt. Ich möchte ihre Lebensfreude und ihren Optimismus nicht verderben. Ich hoffe, sie geht damit in ihre Welt und trägt mit ihrer positiven Energie bei. Sie ist eine Optimistin, ähnlich wie ich. Das wird ihr helfen. Und ich, mit 58 Jahren und einem einflussreichen Job, möchte nicht stolz verkünden, dass der Meilenstein aus Klimaschutzgründen von 2040 auf 2035 vorverlegt wurde. Denn das bedeutet im Klartext: Ich schiebe es auf die Zeit nach meiner Pensionierung, auf die jungen Leute wie meine Tochter. Ich will es jetzt in meinem Job machen, mit Verantwortung, mit Überzeugung. Das hat meine Tränen getrocknet. Und morgen werde ich mir das 2,0°C-Ziel setzen.
Übrigens: Nur ein Jahr später lag die Durchschnittstemperatur auf der Erde zum ersten Mal ein ganzes Jahr lang über 1,5°C.[17] In seinem Beitrag beschreibt Pietro das Klima überhaupt nicht. Er erwähnt nicht den Elefanten im Raum. Er zeigt seine Traurigkeit darüber, dass die Tür für den Elefanten zu klein erscheint, um den Raum zu verlassen. Und wohl die meisten, die die 245 Kommentare gepostet hatten, scheinen es zu verstehen: Eine Mehrheit zeigt Empathie, einige wenige, die von fossilen Brennstoffen leben, leugnen den Elefanten, und acht Kommentare können als ungeschönte Klimakommunikation eingeordnet werden:
Berücksichtigst und modellierst du alle Diskontinuitäten/Unterbrechungen, die durch Naturereignisse/Konflikte verursacht werden? Sagen wir, extremes Wetter/Überschwemmungen/ Zusammenbruch der Infrastruktur? […] Wir könnten 1,5 erreichen, aber vielleicht nicht auf die geordnete Art und Weise, wie wir denken.
Ernsthafte Klimaaktivisten haben schon vor langer Zeit aufgegeben … Es ist einfach ein zu offensichtlicher Versuch, die sich anbahnende Katastrophe herunterzuspielen und den Status quo und unsere milliardenschweren Reichen zu schützen. Bitte fangt an euch über Degrowth zu informieren, wahrscheinlich unsere minimale Chance, den kompletten Zusammenbruch der Gesellschaft abzuwenden.
Ich habe die gleichen Gefühle. Als ehemaliger Sportler sehe ich es so, dass wir 0:5 zurückliegen und nur noch 5 Minuten Spielzeit über sind. Da würde man eigentlich aufgeben und Energie für das nächste Spiel sparen. Nur, es gibt kein nächstes Spiel … […] Die einzige Chance, die ich sehe, ist, dass es bald zu Katastrophen kommt, die wirklich wehtun, und die Menschen endlich aufwachen.
Währenddessen verrücken die Politiker die Stühle auf der Titanic …
Da die Erde unweigerlich zur Klima-Hölle erhitzt, stellt sich die Frage, wo wir am längsten überleben können: … Sibirien, Kanada … oder ist es Südamerika … ?!
Deine traurigen Daten bestätigen, dass es keine technologische Lösung für den Anthropozentrismus gibt und dass unsere geistlose Zivilisation mit mathematischer Präzision auf den Untergang zusteuert.
Ich hoffe, dass ich falsch liege, aber ich glaube, dass das Klima völlig außer Kontrolle geraten wird.
Bereiten wir uns auf das Schlimmste vor und hoffen auf das Beste. Ich persönlich habe immer mit RCP 6 oder mehr gerechnet, 3–5°C.
Auf die meisten dieser schonungslosen Kommentare antwortete Pietro, wenn überhaupt, nur zögernd und minimal. In seinen Notizen schrieb er, dass ihm diese Bemerkung gefiel: „Wir werden vielleicht 1,5 erreichen, aber vielleicht nicht auf die geordnete Art und Weise, wie wir denken.“ Andere gefielen ihm weniger, wie „die einzige Chance “, „Titanic“, „Klima-Hölle“, „unsere geistlose Zivilisation mit mathematischer Präzision auf den Untergang zusteuert“. Er schrieb, dass eine solche Sprache oft ein singuläres Ergebnis verkündet, was Menschen entmutige und daher Widerstand hervorrufe.[18] Weiterhin notierte Pietro:
Leser*innen wie ich wollen zumindest einen Ausweg sehen. Ist es das, was den Menschen in der Vergangenheit geholfen hat, in einer Vielzahl von Situationen zu überleben, in großen wie in kleinen Herausforderungen? Wenn wir uns in einer neuen Situation befinden, prüft unser Verstand für den Bruchteil einer Sekunde, was schief gehen könnte – selbst in fröhlichen Situationen, wie zum Beispiel, wenn wir eine große Geburtstagstorte durch eine Party tragen. Und wenn wir mit einer beängstigenden Situation konfrontiert werden, prüft unser Verstand, wie wir ihr entkommen können, und sei es mit Verdrängung. Als ein Ranger uns sagte, dass wir fünf Minuten Zeit hätten, um vor einem überraschenden Buschfeuer zu fliehen, fing die Frau neben uns an, mit mir zu diskutieren und die Dringlichkeit in Frage zu stellen, anstatt ihre Sachen zusammenzupacken.
Dieses Bild von zwei Meter hohem Speergras hat Pietro auf der Flucht aufgenommen:
Pietro kommt zum Schluss, dass seine Texte nicht instinktive Reaktionen auslösen sollten, sondern
- zumindest dazu einladen, unsere Vorstellungskraft zu erweitern,
- möglicherweise ein gemeinsames Verständnis schaffen,
- und die Menschen selbst ermächtigen.
Pietro hat sich aber über den folgenden Kommentar zu seinem Beitrag gefreut und ihn auf seine To-Do-Liste gesetzt (Original in Englisch):
Ich glaube, dass dieser Moment der persönlichen Abrechnung (und der Trauer) über den Weg, auf dem wir uns immer noch befinden – und über die Konsequenzen, die das haben wird – dass dieser Moment unerlässlich ist, um dem Druck standzuhalten, dem Zynismus, der Angst oder Verleugnung zu widerstehen und sich weiterhin für eine gerechtere und gesündere Zukunft einzusetzen.
Pietro machte sich in den nächsten Tagen Notizen zu diesem Kommentar. Sie deuten darauf hin, dass er beginnt, die Trauerzeit, die er durchlebt, wertzuschätzen. Er nahm innerlich Abschied vom Great Barrier Reef und gleichzeitig berechnete er, wie ein 1,6°C-Ziel mit dem damaligen globalen Ausbau der PV möglich war. Statt des 2°C-Ziels, wie er am Schluss seines Posts verkündet, setzte er sich das 1,6°C Ziel. „Jeder Zehntelgrad macht eine Menge Unterschied“, ist in seinen Notizen zu finden. Aus der Trauer heraus klärte er, auf welche Tätigkeiten er sich mehr konzentrieren möchte. Etwa drei Wochen später finden wir seine Notiz: „Die Trauer hat mich geerdet und mir viele Wege eröffnet, die ich gehen kann.“
Ungeschönte Klimakommunikation mit Jugendlichen
Pietro schlug wohl mehre Wege ein. Den Beruflichen hat er schon am Ende seines Posts spontan angekündigt. Er arbeitete in der Entwicklungsabteilung einer der größten Solarenergie-Herstellern seiner Zeit. Diese Aktivitäten sind wohl in einem anderen Datenzentrum zu finden, in der Region des damaligen Chinas.
Parallel verfolge er andere Aktivitäten, zu denen im hiesigen Datenzentrum erhalten sind. Zum Beispiel vertiefte er sich in die Frage, wie er auf junge Menschen eingehen konnte, die ihm von ihren dystopischen Zukunftserwartungen erzählten. Die Fotos auf seinem Telekommunikationsgerät zeigen, wenn auch nur zweidimensional, wie er einige Jahre zuvor mit seiner 17-jährigen Tochter auf dem Balkon saß. Diese Fotos zeugen davon, dass sie vorübergehend im jetzt im Meer versunkenen Rotterdam lebten, als die sogenannte Corona Pandemie abklang (die relativ harmlos war im Vergleich zu den Viren, die später im auftauenden Permafrost erwachten). In seinen persönlichen Notizen von damals wird kurz ein Gespräch mit seiner Tochter auf diesem Balkon erwähnt. Er schien zuversichtlich: „CO2 ist nebst Methan die Hauptursache für die globale Erwärmung. Wenn wir das CO2 nicht senken, werden die Kräfte der Natur die meisten anderen Bemühungen zunichte machten, wie Anpassung, Klimagerechtigkeit, Artenvielfalt usw. Aber wir werden den CO2-Ausstoß senken, da bin ich mir sicher.“ Seine Tochter schien weitaus hoffnungsloser zu sein und lachte ihn wohl aus, weil sie ihn naiv fand. Sie nannte ihn „Boomer“. Jungen Menschen bezeichneten damals andere als Boomer, wenn sie den Eindruck hatten, die Person ist ein älterer, privilegierter Mensch, der sich dessen nicht bewusst ist. Denn auch Pietro wurde in einer großen Altersgruppe geboren, kurz bevor die Verhütungspille erfunden wurde, und profitierte von den Boomerjahren nach einem globalen Krieg, der Zweiter Weltkrieg genannt wurde.
Seine Tochter vertraute nicht darauf, dass sich eine geeignete Technologie schnell genug durchsetzen würde, aufgrund von gesellschaftlicher Trägheit und der, wie sie es nannte: Inkompetenz der Menschheit. Er schien sich hilflos zu fühlen, wenn es darum ging, ihre Sichtweise zu erhellen, geschweige denn, sie zu überzeugen. Seine Tochter fand dystopische Aussagen angebracht, weil sie genau das in ihrer Zukunft erwartete, trotz ihres Optimismus.
Nach der oben beschriebenen Trauerphase änderte Pietro seine Meinung und suchte nach verschiedenen Möglichkeiten, sich mit jungen Menschen dazu auszutauschen. In seinen Notizen finden sich Dateien, in denen er Reden auf Kundgebungen für junge Menschen entwickelt. Erhalten sind Fotos und zum Teil Tonaufnahmen von mindestens drei Reden an Aktive der Sozialen Bewegung Fridays for Future. Auch stellte er bei Fortbildungen für Lehrkräfte ein paar Projekte vor. Zum Beispiel beim Handarbeitsunterricht die Überhitzung Indiens zu thematisieren. Die Hitze führt zum Einbruch der Baumwollproduktion. Die Schüler*innen unterhalten sich während ihrer Handarbeit über die Auswirkungen auf die Mode, auf die Kaufhäuser in den Stadtzentren reicher Länder und auf das Kaufverhalten. Im Gespräch fangen sie an, sich vorzustellen, wie sie selbst beginnen könnten, ihre eigenen Kleider länger zu tragen und sie fantasievoll zu flicken. Pietros Notizen zeigen, wie er die „große dunkle Wolke“ für die Jugendlichen greifbar machen wollte und hoffte, dass sein Beitrag dazu beitragen würde, aus der diffusen Erwartung eine konkrete, handelbare Zukunft zu entwickeln, auch wenn diese düster erscheint. Die Details würden den Umfang dieses Textes überschreiten, sind aber hier veröffentlicht: Archeology and Climate Change, Volume 534, Page 492, Year 2516.
Persönliche Kommunikation
Die Ausgrabung gibt uns einen Einblick in Pietros persönliche Entwicklung als Wissenschaftler in der sich schnell verändernden Plastik-Episode. Sie zeigt uns Pietros Unsicherheiten, seine Ziele und Wünsche, aber auch sein Verhalten in der Öffentlichkeit und gegenüber seinen Kolleg*innen. Abschließend wird eine persönliche Notiz wiedergegeben, die er vor seiner Abreise aus Europa im Jahr 2024 geschrieben hat:
Ich denke, wir sollten uns neben den notwendigen technologischen Maßnahmen stärker darauf konzentrieren, was wir angesichts des Klimawandels füreinander tun können: Den sozialen Zusammenhalt in der Weltbevölkerungen, in einzelnen Ländern und innerhalb von Parteien stärken, damit wir uns besser verstehen, einander vergeben und vertrauen können.
Dazu hilft es, in der Stille oder in einem vertrauten Kreis nachzudenken. Was ist meine Lebensgeschichte? Welche persönlichen Moralvorstellungen, Werte und Fähigkeiten wurden durch sie gefördert? Was kann ich von ihnen auf mein Klimaengagement übertragen?
Als ich 1996 in Australien 10 Tage lang in einer Flut gefangen war, war ich überrascht, wie machtlos ich mich fühlte. Überschwemmungen sehen oft aus wie ein ruhiger See. Doch unsichtbare Strömungen zogen mich weg, sobald ich hüfttief im Wasser stand. Dieses tiefe Gefühl des physischen Kontrollverlustes wird in mir wach, wenn ich Bilder von Überschwemmungen in den Medien sehe. Wir hatten kein neues Trinkwasser, keine frischen Lebensmittel, dafür aber jede Menge Moskitos. Das Fundament des Hauses wurde sumpfig und hat nachts quietschende Geräusche von sich gegeben, wenn ich versuchte zu schlafen. Ich wachte auf, weil Wasser in mein Ohr sickerte.
Und dann die lange Dürre, die wir 2001 bis 2004 erlebten. Meine Partnerin war schwanger, und sie sagte, sie empfinde es als einen tiefen Widerspruch, das Kind in sich wachsen zu spüren, während sie Staub sehe, soweit das Auge reicht. Wir hatten schon in früheren Situationen erlebt, wie ungeteerte Straßen im Staub verschwinden können, und wir konnten uns deshalb vorstellen, wie schwer es werden kann, aus dürregeplagten Regionen zu fliehen:
Diese Erfahrungen waren für uns jedoch nie lebensbedrohlich – im Gegensatz zur den Lebensrealitäten vieler anderer Menschen. Heute beeinflussen diese Erinnerungen, wie ich die Welt wahrnehme und wie ich mich für den Klimaschutz engagiere. Wobei auch viele unauffällige Erfahrungen dazu beitragen. Ich fühle mich nicht wie ein Held. Ich bin ein glücklicher Mensch, der in einer Zeit lebt, in der wir auf einer wunderbaren, aber zunehmend rüpelhaften Tanzparty herumtrampeln. Ich trage bei, unsere Fußabdrücke in den Griff zu bekommen. Und auf dieser Tanzparty beginnt es uns langsam zu dämmern …
Am 20. August 2024 verließ Pietro Europa und damit endeten die Daten von Pietro aus diesem Datenzentrum. Da er ohnehin mehrheitlich online arbeitete, kündigte er an, bis auf weiteres als digitaler Nomade mit einem 8kg leichten Rucksack ganz langsam durch ärmere Länder zu ziehen. Er wollte dort Menschen kennenlernen und mit ihnen Zeit verbringen, um ihre Kultur besser zu verstehen, um zu sehen, wie der Klimawandel Alltag und Erwartungen ändert. In seinen letzten, uns erhaltenen Notizen finden sich Auszüge aus anthropologischen Büchern mit Titeln wie The Vulnerable Observer[19] und Autoethnography for Beginners.[20]
Was hätte Pietro anders gemacht, wenn er gewusst hätte, was auf seine Welt zukommt?
Lizensierung
Pietro P. Altermatt (2024) Creative Commons-Lizenz CC BY 4.0.
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1
Vgl. z. B. https://climate.ec.europa.eu/climate-change/consequences-climate-change_de.
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2
Altermatt, Pietro Peter (2024): Gas Contract Signed, but Should We Celebrate or Tremble? (LinkedIn-Beitrag). https://www.linkedin.com/posts/pietro-peter-altermatt-b2798216_fossilfuels-gasnatural-gas-activity-7142991294154416128-Rbbp. Übersetzungen des Autors
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3
Vgl. UNICEF (2023): Children Displaced in a Changing Climate. Report. https://www.unicef.org/reports/children-displaced-changing-climate.
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4
Vgl. FSIN/Global Network Against Food Crises (2023): Global Report on Food Crises 2023. https://www.fsinplatform.org/global-report-food-crises-2023.
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5
SEFE Securing Energy for Europe GmbH (2023): SEFE und Equinor schließen langfristige Gasliefervereinbarungen und streben Wasserstofflieferungen in großem Umfang an (Pressemitteilung, 19.12.2023). https://www.sefe-group.com/newsroom/pressemitteilungen/sefe-und-equinor-schliessen-langfristige-gasliefervereinbarungen-und-streben-wasserstofflieferungen-in-grossem-umfang-an.
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6
Vgl. Sherwood, Steven C. et al. (2020): „An Assessment of Earth’s Climate Sensitivity Using Multiple Lines of Evidence“, in: Reviews of Geophysics 58, 4. https://doi.org/10.1029/2019RG000678.
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7
Brozović, Danilo (2023): „Societal Collapse: A Literature Review“, in: Futures 145, 103075. https://doi.org/10.1016/j.futures.2022.103075.
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8
Vgl. Schwartz, Glenn M./Nichols, John J. (2006): After Collapse. The Regeneration of Complex Societies, Tucson, AZ: The University of Arizona Press; Tainter, Joseph A. (1988): The Collapse of Complex Societies, Cambridge, UK: Cambridge University Press.
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9
Vgl. Bevan, Andrew et al. (2017): „Holocene Fluctuations in Human Population Demonstrate Repeated Links to Food Production and Climate“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences 114, 49, E10524-E10531. https://doi.org/10.1073/pnas.1709190114; Cullen, Heidi M. et al. (2000): „Climate Change and the Collapse of the Akkadian Empire: Evidence From the Deep Sea“, in: Geology 28, 4, S. 379–382. https://doi.org/10.1130/0091-7613(2000)28<379:CCATCO>2.0.CO;2; Douglas, Peter M.J. et al (2016): „Impacts of Climate Change on the Collapse of Lowland Maya Civilization“, in: Annual Review of Earth and Planetary Sciences 44, S. 613–645. https://doi.org/10.1146/annurev-earth-060115-012512; Drake, Brandon L. (2012): „The Influence of Climatic Change on the Late Bronze Age Collapse and the Greek Dark Ages“, in: Journal of Archaeological Science 39, 6, S. 1862–1870. https://doi.org/10.1016/j.jas.2012.01.029; Finné, Martin et al. (2017): „Late Bronze Age Climate Change and the Destruction of the Mycenaean Palace of Nestor at Pylos“, in: PLoS ONE 12, 12, e0189447. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0189447; Flores, Juan C. et al. (2011): „A Mathematical Model for the Andean Tiwanaku Civilization Collapse: Climate Variations“, in: Journal of Theoretical Biology 291, 21, S. 29–32. https://doi.org/10.1016/j.jtbi.2011.09.018; Großmann, Ralph et al. (2023): „Demographic Dynamics Between 5500 and 3500 calBP (3550–1550 BCE) in Selected Study Regions of Central Europe and the Role of Regional Climate Influences“, in: PLoS ONE 18, 10, e0291956. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0291956; Haug, Gerald H. et al. (2003): „Climate and the Collapse of Maya Civilization“, in: Science 299, 5631, S. 1731–1735. https://doi.org/10.1126/science.1080444; Peñuelas, Josep/Nogué, Sandra (2023): „Catastrophic Climate Change and the Collapse of Human Societies“, in: National Science Review 10, 6, nwad082. https://doi.org/10.1093/nsr/nwad082; Weiberg, Erika/Finné, Martin (2018): „Resilience and Persistence of Ancient Societies in the Face of Climate Change: A Case Study From Late Bronze Age Peloponnese“, in: World Archaeology 50, 4, S. 584–602. https://doi.org/10.1080/00438243.2018.1515035; Wiener, Malcolm H. (2016): „The Interaction of Climate Change and Agency in the Collapse of Civilizations ca. 2300–2000 BC“, in: Radiocarbon 56, 4, S. 1–16. https://doi.org/10.2458/azu_rc.56.18325.
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10
Vgl. Armit, Ian et al. (2014): „Rapid Climate Change Did Not Cause Population Collapse at the End of the European Bronze Age“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences 111, 48, 17045–17049. https://doi.org/10.1073/pnas.1408028111; Flohr, Pascal et al. (2016): „Evidence of Resilience to Past Climate Change in Southwest Asia: Early Farming Communities and the 9.2 and 8.2 ka Events“, in: Quaternary Science Reviews 136, S. 23–39. https://doi.org/10.1016/j.quascirev.2015.06.022; Gao, Chaochao et al. (2021): „Volcanic Climate Impacts Can Act as Ultimate and Proximate Causes of Chinese Dynastic Collapse“, in: Communications Earth & Environment 2, 234. https://doi.org/10.1038/s43247-021-00284-7; Lima, Mauricio (2014): „Climate Change and the Population Collapse During the ‚Great Famine‘ in Pre-Industrial Europe“, in: Ecology and Evolution 4, 3, S. 284–291. https://doi.org/10.1002/ece3.936.
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11
Vgl. Haldon, John et al. (2018): „History Meets Palaeoscience: Consilience and Collaboration in Studying Past Societal Responses to Environmental Change“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences 115, 13, 3210–3218. https://doi.org/10.1073/pnas.1716912115.
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12
Vgl. Schwartz/Nichols (2006).
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13
Richards, Catherine E. et al. (2021): „Re-Framing the Threat of Global Warming: An Empirical Causal Loop Diagram of Climate Change, Food Insecurity and Societal Collapse“, in: Climate Change 164, 49, S. 49.
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14
Kemp, Luke et al. (2022): „Climate Endgame: Exploring Catastrophic Climate Change Scenarios“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences 119, 34, e2108146119. https://doi.org/10.1073/pnas.2108146119; Moser, Susanne C. (2020): „The Work After ‚It’s Too Late‘ (To Prevent Dangerous Climate Change)“, in: WIREs Climate Change 11, 1. https://doi.org/10.1002/wcc.606.
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15
Vgl. Kemp et al. (2022).
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16
Altermatt, Pietro P. (2023): Today Is a Very Sad Day for Me (LinkedIn-Beitrag) https://www.linkedin.com/posts/pietro-peter-altermatt-b2798216_today-is-a-very-sad-day-for-me-i-have-been-activity-6971082323240882178-AtYg.
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17
Copernicus (2024): Monthly Climate Bulletin: Warmest January on Record, 12-Month Average Over 1.5°C Above Preindustrial. https://climate.copernicus.eu/warmest-january-record-12-month-average-over-15degc-above-preindustrial.
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18
Foust, Christina R./O’Shannon Murphy, William (2009): „Revealing and Reframing Apocalyptic Tragedy in Global Warming Discourse“, in: Environmental Communication 3, 2, S. 151–167. https://doi.org/10.1080/17524030902916624.
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19
Vgl. Behar, Ruth (1996): The Vulnerable Observer. Anthropology That Breaks Your Heart, Boston, MA: Beacon Press.
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20
Beattie, Liana (2024): Autoethnography for Beginners. A Step-By-Step Guide. https://www.researchgate.net/publication/378396435_Autoethnography_for_beginners_a_step-by-step_guide.