Editorial von Thomas Köhler
Dem Climate Endgame ohne Scheuklappen begegnen
Als ich 2022 die Zukunftsdiskurse-Ausschreibung des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur entdeckte, war mir sofort klar, wofür ich diesen Rahmen gerne nutzen würde: Das kompakte und eigentlich recht spröde „Climate Endgame“-Paper gehörte für mich zu den einschneidenden wissenschaftlichen Leseerlebnissen der letzten Jahre. Hier fand sich extrem nüchtern und umsichtig formuliert eine Frage wieder, die uns im wissenschaftlichen und aktivistischen Feld schon länger umtreibt: Was, wenn die Große Transformation weiter abirrt und der notwendige Wandel nicht mehr gelingt? Wobei ich als alter Marvel-Universe-Freund den Titel dieses Papers besonders ansprechend fand. Ich habe ihn als begeisterter Rezipient der Endgame-Episode schlicht und einfach so verstanden, dass wir uns (wie die Avengers) zwar in einer schwer angeschlagenen, nahezu aussichtslosen Lage befinden – aber gerade in diesem Moment, wenn wir erschöpft und verwundet sind und vieles dafür spricht, einfach aufzugeben, gerade dann das absolut Unwahrscheinliche doch noch versuchen – und schließlich den Kampf gewinnen.
Die Endgame-Agenda besteht dann zunächst einmal darin, der wahrhaft schrecklichen Lage ohne Scheuklappen zu begegnen. Damit ist allerdings noch nichts über eine gelingende Klimakommunikation bzw. für einen erfolgreichen Kampf gegen die fossilistischen Infrastrukturen und Mächte gesagt. Nach meiner Lesart sind alle Formen des Fatalismus, die aus dieser Lagebeschreibung resultieren, verständlich, aber auch gefährlich. Auch jede plumpe Forderung nach Übertragung katastrophischer Szenarien in den Raum der politischen Kommunikation ist zurückzuweisen. Um möglichst viele Menschen für den notwendigen, schnellen und tiefgreifenden Wandel zu gewinnen, gar zu begeistern, braucht es deutlich mehr als Doomsday-Narrative. Aber es ist wichtig, diejenigen, die in Panik oder auch schon in der Erschöpfung sind, die also einen klaren Blick auf die ungeheuren Gefahren eines Massenaussterbeereignisses haben, sehr ernst zu nehmen, sie zu stärken und mit ihnen ko-kreative Modelle des Politischen und der transformativen Bildung zu entwickeln. Das jedenfalls war und ist meine Lesart des Endgame‑Papers.
Übrigens war ich (trotz meiner Cultural-Studies-Erfahrungen) im Projektverlauf immer wieder überrascht, wie viele Leute die Marvel-Endgame-Episode gar nicht kennen oder wie sie eine völlig andere Lesart des Endgame-Papers haben oder es einfach nicht weiter wichtig finden. Aber so ist das mit Lesarten in einer – sagen wir ruhig mal: postmodernen Kultur. Und so ist es auch mit Zukunftsdiskursen in komplexen Gesellschaften. Mit einiger Gewissheit können wir nur sagen, dass sie weiterhin chaotisch und überraschend verlaufen werden. Ich kann mir derzeit, um ein konkretes Beispiel zu nennen, nicht wirklich einen guten Verlauf der politischen Kommunikation in Deutschland vorstellen. Aber das konnte ich bis zu Bidens Kandidaturverzicht für die USA auch nicht und wow, wie rasant hatten sich dort in wenigen Tagen nach seiner Verzichtserklärung die Stimmungslagen positiv verändert. Unser Climate Endgame ist eine brutale, bösartige Konstellation, aber sie ist voller Ungewissheiten und ja, es wird hoffentlich auch noch zu Held*innengeschichten taugen.