Ein Essay von Timo Kassel
Dem Schmerz der Welt begegnen
Ich entsperre mein Handy, öffne die Nachrichten, beginne zu scrollen. „Krieg in Nahost“, „Unwetter über Deutschland“, „Brände in Kalifornien“, „Parkplatzmangel in Städten“ und zwischendurch wehen mir ein paar Deutschland-Fahnen und die Frage nach dem Sommermärchen entgegen. Unbeeindruckt checke ich noch das Wetter für die nächsten Tage.
Es fühlt sich vertraut, ganz gewohnt an, wie der tägliche schnelle Blick in den Spiegel nach dem Zähneputzen. Der „normale Wahnsinn“ könnte man sagen. Ob das wirklich normal ist oder Sinn hat, hinterfrage ich in dem Moment nicht. Dafür ist keine Zeit vor dem nächsten Online-Termin in meinem Alltag in Deutschland. Dass ich hier in einer sehr privilegierten Position bin, einfach weiter machen zu können, mache ich mir dann jetzt lieber auch nicht bewusst.
Gleichzeitig weiß ich jedoch, dass unter dieser alltäglichen Schicht von Taubheit; etwas liegt, das tief vergraben und kaum wahrnehmbar ist, zwischen meinen alltäglichen Gedanken und To-Dos.
Aber eigentlich ist es immer da, dieses Gefühl, welches sich zu groß anfühlt, diese Stimme, die keinen Ausdruck findet.
Dieses Gefühl weiß um die Bäume, die in diesem Moment gefällt werden, um die grünen Flächen, die versiegelt werden. Es weiß um die Tiere, deren Lebensraum zerstört wurde und um die Flüsse, die vergiftet sind.
Das Gefühl weiß um die Kriege, die gerade toben, um die Menschen, die gerade ihre Familien verlieren. Es weiß um diejenigen, die gerade auf der Flucht sind.
Und es weiß auch um die Zäune, die Europa umgeben, um die Schüsse, die dort zu hören sind, und um die Toten, die jeden Tag an den Strand gespült werden.
Diese Stimme weiß auch und flüstert mir zu: „Das ist nicht richtig.“
Es ist nicht normal, dass wir so viel Essen wegwerfen, während andere verhungern. Es ist nicht normal, dass manche überall hinreisen können und andere nirgendwo. Es ist nicht normal, umgeben von so viel Beton zu leben. Es ist nicht normal, weiterzumachen wie bisher, wenn wir wissen, dass das Ganze in eine riesige Katastrophe führt. Und es ist nicht normal, dass ich all das immer wieder vergesse und es in meinem alltäglichen Leben keinen Platz findet.
Aber wieso vergesse ich es trotzdem immer wieder?
„Es ist zu groß. Ich kann doch nicht die ganze Zeit die ganze Welt an mich ranlassen. Da würde ich ja nur noch schreiend und weinend durchs Leben gehen“, denke ich. Es geht also darum, handlungsfähig zu bleiben und meine Gefühle dabei nicht wegdrücken zu müssen.
Ist das beides gleichzeitig möglich? Und liegt darin vielleicht sogar ein neuer Umgang mit unserem globalen Schlamassel, der bald das Ende menschlichen Lebens auf der Erde bedeuten könnte?
Anscheinend braucht es diesen neuen Umgang, denn all das Wissen und die Fakten, die uns zur Verfügung stehen, haben uns bis hierher nicht vor der Katastrophe bewahrt. Wir steuern immer weiter auf die Felskante zu. Und es bleibt abzuwarten, ob das im globalen Norden gängige kurzfristige Lösungsdenken hin zu E-Autos hier und Wasserstoff dort, uns noch bewahren kann.
Dabei will ich nicht unterschätzen, welchen Nutzen Lösungsdenken auf unser Nervensystem hat. Ein kurzfristiger Spannungsabbau und einmal Ausatmen stabilisiert uns und hilft uns, in dem Chaos zu navigieren.
Im Rahmen meiner Ausbildung zum Coach und meinem persönlichen Forschen, wie Mensch-Sein eigentlich funktionieren kann, durfte ich lernen, welche Rolle der ventrale Vagusnerv als Teil unseres autonomen Nervensystems hier spielt. Üblicherweise reagieren Menschen zuerst mit diesem Teil des Nervensystems auf Stress und Gefahr. Um Sicherheit wieder herzustellen und unser Überleben zu sichern, schickt der Vagusnerv Informationen ans Gehirn und unsere Muskeln, der Körper schaltet in einen aktivierteren Zustand und wir wechseln in den Kampf- oder Fluchtmodus.
In diesem Zustand von Überforderung ist analysieren und verstehen meistens das Einzige, auf was wir zurückgreifen können.
Etwas anderes haben die Meisten von uns nie gelernt. „Fühlen“ gab es leider nirgends als Schulfach und wurde häufig eher mit Nachsitzen bestraft. Und ein wirkliches Gegenüber bei Überforderung oder emotionalem Stress hatten in der Kindheit auch nur die Wenigsten. Häufig haben wir hier Erfahrungen von Alleine-gelassen werden und Einsamkeit gemacht. Wie oft bin ich früher mit meinem Fahrrad in den Wald gedüst, um irgendwie klarzukommen, mit all den Herausforderungen, die ich als Kind und Teenager, vor allem in der Schule, hatte. Im Wald war ich sicher vor Verurteilung und Beschämung. Ich habe gelernt, es mit mir allein auszumachen oder ganz runterzuschlucken.
In anderen Worten könnte man auch sagen, wir haben unsere schwierigen Emotionen eingefroren und in den Gefrierschrank weggepackt. Das Blöde daran ist, dass so ein Gefrierschrank einen ziemlich hohen Energieverbrauch hat. Energie, die uns nicht mehr für die notwendige Transformation zur Verfügung steht. Aber dass Gefrierschränke nicht das beste für unser Klima sind, wussten wir ja bereits.
Was ist, wenn ich in all dem nicht der Einzige bin, der sich einsam fühlt? Kann Miteinander und zwischenmenschliche Beziehung uns beim Auftauen helfen?
Unsere Traumata (hier Entwicklungstraumata[2]), alias eingefrorene Gefühle, sind häufig durch Beziehungslosigkeit und fehlende Mittel der Regulation entstanden. Diese Traumata bestimmen zu großen Teilen, wie wir in die Welt schauen und führen dazu, dass wir uns als voneinander getrennte Individuen verstehen.
Individuen, die auch getrennt von unseren Ökosystemen und unserem Heimatplaneten sind.
Würden wir uns selbst als Natur begreifen, wären wir gar nicht in der Lage, so weiterzumachen wie bisher. Oder würdest du gerne schädliche Gase einatmen, Gift trinken oder dir Wunden in den Körper schneiden?
Diese Fragen habe ich mir das erste Mal so gestellt, als ich mit einigen Menschen barfuß im Park stand. Dort sind wir zusammengekommen, inspiriert von „Standing with the Earth“ nach Heike Pourian.[3,4] Ein Format des stillen Protests und Ausdruck unserer Verbundenheit zur Erde und tiefer Menschlichkeit. Das gemeinsame Stehen und Bezeugen des derzeitigen globalen Zustands, ohne dabei gleich Lösungen zu suchen oder in Aktionismus zu verfallen, ist für mich ein möglicher Ansatz einer neuen Kultur und einem damit verbundenen Umgang mit der Klimakrise.
Immer wieder standen wir gemeinsam, immer wieder an anderen Orten. Mal am Fluss, mal auf dem Marktplatz, mal auf dem Weihnachtsmarkt oder vor den Fabriktoren. Immer wieder bin ich ein Stückchen mehr in Kontakt gekommen mit diesem tief vergrabenen Gefühl von Weltschmerz.
Mir war klar: „Da geht es lang, da liegt ein Geschenk für mich, auch wenn es weh tut.“
Als ich dann die tiefenökologische Arbeit von Joanna Macy kennengelernt habe, die genau dafür schon Worte und Konzepte hatte, ist mir bewusst geworden, welcher Unterschied darin liegt, wenn ich aus diesem Selbstkontakt in die Welt gehe und für eine lebenswertere Zukunft einstehe und handle.
Joanna Macy ist Ökophilosphin und Aktivistin mit über 50 Jahren Engagement für soziale und globale Gerechtigkeit. Als Gelehrte für Buddhismus und Systemwissenschaften hat sie eine Spirale entworfen, die sie als „Landkarte“ ihrer Arbeit beschreibt. Diese Spirale beinhaltet vier aufeinanderfolgende Entwicklungsphasen, an denen wir uns orientieren können, wenn wir für den „großen Wandel“, wie Joanna ihn nennt, gehen: Wir beginnen mit der Dankbarkeit, würdigen unseren Schmerz um die Welt, lernen mit neuen Augen zu sehen und gehen weiter und handeln.
Sie geht also über die von mir erwähnte Gleichzeitigkeit von Handlungsfähigkeit und Gefühle nicht wegdrücken zu müssen hinaus und versteht die Gefühle sogar als Grundlage für Handlungsfähigkeit.
Und trotzdem habe ich so oft gedacht: „Leichter gesagt, als getan. In Verbindung mit der Erde kommen, dem Schmerz der Welt begegnen – wie soll das gehen, bei all der Taubheit und Schnelligkeit, die meinen Alltag prägen?“
„Braucht es vielleicht mehr Entschleunigung und Langsamkeit?“ frage ich mich und denke dabei an die ungewöhnlich vielen Schnecken, die dieses Jahr unseren Salat im Garten des 'Rest in Resistance'[5] Retreatorts auffressen.
Ein Ort, an dem ich Aktivist*innen in emotionalen Prozessen begleite und wir ihnen Zeit zur Regeneration schenken. So entsteht die Möglichkeit, dem eigenen Nervensystem gerecht zu werden und unser inneres Erleben in Echtzeit mitzubekommen. Also vielleicht bei der nächsten Diskussion mitzubekommen, wann ich beginne zu intellektualisieren und Lösungen zu suchen. Denn unser inneres Erleben ist häufig komplexer, als dass wir da mal eben schnell drüber gehen sollten. So bekommen wir die Möglichkeit, ab und zu mal eine andere Abzweigung zu wählen und unsere Gefühle mitzunehmen.
Auch die „Theory U“ von Otto Scharmer[6] vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) beschreibt die Notwendigkeit unserer Gefühle für einen ganzheitlichen Transformationsprozess.
Als Ökonom und Aktionsforscher am MIT hat Otto Scharmer eine Kurve, das „U“, entwickelt, an dessen oberen Ende das „Downloading“ steht. Ein Punkt, an dem wir uns in unserem gewohnten Wissensradius befinden, ohne dabei unsere Perspektive zu erweitern. Zum Beispiel wissen wir hier: „Wenn wir die 1,5 Grad Grenze überschreiten, wird das unvorhersehbare und unumkehrbare Konsequenzen haben.“ So gerne wollen wir dann schnell ans andere Ende der Kurve springen, um das Problem behoben zu haben und bloß nicht das „U“ herabzusteigen, was bedeuten würde, unsere Gefühlsebene zu öffnen. Wie schon oben beschrieben, ist das jedoch auch gar nicht so einfach. Wenn dann noch unsere intelligenten Schutzmechanismen dazwischen grätschen und uns erzählen, „für Gefühle haben wir keine Zeit, es ist schon 5 nach 12“, dann wird es doppelt schwer.
Immer wieder erwische ich mich dabei, mich zurückzuwünschen an den Punkt, bevor ich angefangen habe, hinzuschauen, bevor ich um den Zustand der Welt wusste, bevor ich diesen Schmerz gefühlt habe. Es war so viel einfacher.
Doch trotzdem habe ich oft diesen Moment erlebt, diese Stille nach einem emotionalen Prozess. Wie oft war danach alles anders. Wie oft hatte ich plötzlich eine ganz neue Perspektive auf die Situation. Und dann gedacht „vielleicht lohnt es sich ja doch diesen Weg zu gehen“.
Am unteren Ende des U's folgt laut Otto Scharmer genau dieser Zustand. Das „Pre-sencing“, eine Mischung aus den Wörtern „Presence“ und „Sensing“, bezieht sich auf die Fähigkeit, das höchste Zukunftspotenzial zu spüren und mit der Gegenwart zu verbinden – als Individuum und als Gruppe.
„Von der Zukunft her führen.“ – wäre das nicht ein radikal neuer Ansatz, komplexe Probleme nicht auf Basis vergangener Erfahrungen zu lösen, sondern eine tiefere und ganzheitlichere Sichtweise zu entwickeln? Eine Sichtweise, die ein System als Ganzes betrachtet und die Beziehungen und Zusammenhänge der Systembestandteile für alle Beteiligten erlebbar und nachvollziehbar macht?
Es geht also auch um Bewusstseinsentwicklung. Um das Aufwachen in ein größeres Gesamtbild, eine Ebene, die sich uns auf den ersten Blick nicht rational erschließt.
Ob es da noch etwas Größeres gibt, als das, was wir bisher kennen, müssen wir wohl alle selbst herausfinden. Ob wir darin vertrauen können, dass wir als Teil von diesem Größeren gehalten werden und darin sicher sind, das bleibt eine Erfahrungswissenschaft. Und ob dieser Zugang Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit liefern kann, bleibt zu erforschen.
„Jetzt wird es spooky“, denke ich und erinnere mich an die Wochen, nachdem das kleine Dorf Lützerath am Tagebau Garzweiler geräumt war. Ich saß wieder daheim. Vor meinem inneren Auge hatte sich dieses große Loch, diese Wunde in der Erde eingebrannt, mit den Baggern, die sich in die Erde gruben, um immer noch mehr Kohle zu fördern. Ich war mal wieder an einem Punkt von Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht. Aber es gab etwas, an dem ich mich festhalten konnte. Oder das mich gehalten hat? Ich weiß es nicht. Aber irgendwie stand ich an der Seite des Lebens.
Es war, als hätten wir eine Pakt geschlossen. Unsere Verbindung hat sich wieder ein Stückchen vertieft. Diese Verbindung bringt immer wieder eine neue Weite mit sich, die mir Kraft gibt und neue Einblicke schenkt.
Ich glaube, es war die Aussichtslosigkeit der Situation und Notwendigkeit, dass es irgendwie weitergehen musste. Ist das nicht auch gerade unsere globale Situation?
Wenn wir diesem globalen Sterbeprozess, der gerade stattfindet, wach und fühlend begegnen können und uns darin gegenseitig wieder finden, dann haben wir eine Möglichkeit zur Co-Kreation, die auf einer anderen Basis stattfindet, als bisherige Ansätze die Welt zu retten.
Denn solange wir die Welt retten wollen, spielen wir weiter das Spiel des Menschen, der die Welt dominieren und kontrollieren kann. Dies ist zwar gut gemeint, die damit verbundene Selbstüberschätzung und Top-Down-Perspektive wurzelt aber weiterhin in jahrhunderte-alter patriarchaler Konditionierung. Am Ende sind wir Täter*innen und Opfer gleichzeitig.
Wenn wir es schaffen aus diesem Drama-Dreieck[7] (Täter, Opfer, Retter), wie es in der Transaktionsanalyse genannt wird, auszusteigen, verlassen wir uns limitierende Muster und können uns neu definieren. Dann können wir aus der alten Geschichte der Trennung heraustreten in eine Lebensweise des Inter-Being. Dieser von Thich Nhat Hanh[8] geprägte Begriff bezeichnet die Verbundenheit und wechselseitige Abhängigkeit aller Elemente der Existenz.
Es bleibt die Frage, ob wir entgegen unserer jahrelangen gegensätzlichen Erfahrung, Vertrauen darin finden können, dass Veränderung auch etwas Positives bringt.
Denn unsere Trauma-Muster sitzen sowohl auf individueller als auch kollektiver Ebene ganz schön tief. So ist vielleicht auch Nicht-Wollen und Taub-Bleiben der vermeintlich sicherere und gewohnte Weg. Dann bleibt uns nur noch anzuerkennen, dass Transformation unmöglich scheint und wir uns die Geschichte der Trennung weitererzählen. Wir haben die Wahl.
Den Gefrierschrank aufzutauen bringt jedenfalls eine Menge Wasser in Bewegung. So viel, dass wir uns dem vielleicht allein nicht gewachsen fühlen.
Wir brauchen uns. Wir brauchen uns gegenseitig, um kollektiv betrauern zu können, was wir angerichtet haben. Die Tränen zu weinen, die geweint werden wollen, um uns von ihnen an neue Ufer spülen zu lassen.
Lizensierung
Timo Kassel (2024) Creative Commons-Lizenz CC BY 4.0.
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1
Porges, Stephen W. (2017): Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit. Gespräche und Reflexionen: Traumabehandlung, soziales Engagement und Bindung, Lichtenau/Westfalen: G. P. Probst Verlag.
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2
Heller, Laurence/Lapierre,Aline (2021): Entwicklungstrauma heilen: Alte Überlebensstrategien lösen, Selbstregulierung und Beziehungsfähigkeit stärken. Das Neuroaffektive Beziehungsmodell zur Traumaheilung NARM, 8. Aufl., München: Kösel 2021.
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3
Pourian, Heike (2022): Wenn wir wieder wahrnehmen: Wach und spürend den Krisen unserer Zeit begegnen, 2., überarb. Aufl., Waldkappel: Ideen³ e.V.
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4
Macy, Joanna/Brown, Molly (2017): Für das Leben! Ohne Warum. Ermutigung zu einer ökologisch-spirituellen Revolution, 4., überarb. Aufl., Paderborn: Junfermann-Verlag.
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6
Scharmer, Otto (2009): Theorie U.Von der Zukunft her führen, Heidelberg: Auer.
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7
Vgl. zur Transaktionsanalyse Karpman, Stephen (2016): Ein Leben ohne Spiele. Das definitive Buch über das Drama-Dreieck und das Mitgefühls-Dreieck von seinem Begründer und Autor: Die neue Transaktionsanalyse der Vertrautheit, der Offenheit und der Zufriedenheit, Weilheim: Process Training & Consulting e. K.
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8
Thích Nhất Hạnh (1998): Interbeing. Fourteen Guidelines for Engaged Buddhism, 3. Aufl., Berkeley, CA: Parallax Press.