Dokumentation von Annemie Martin
Die Flut kommt immer nachts
Börrgerende, 2050. Einem kleinen Dorf an der Ostsee droht die Überflutung durch den Anstieg des Meeresspiegels und damit einhergehend die Umsiedlung ins Landesinnere;
das Ende also, so wie vielen Küstenregionen weltweit. Es herrscht Endzeitstimmung – eine Stimmung, die zwischen Angst und letzter noch nicht ganz erloschener Hoffnung oszilliert. Man weiß es schon so lange, wartet im Grunde auf die Flut, doch das scheint niemand wirklich zu realisieren. Es ist zu heiß.
Für meine Masterarbeit im Fachbereich Kommunikationsdesign mit dem Schwerpunkt Fotografie habe ich einen Teilaspekt der Klimakrise beleuchtet: Den zu erwartenden Meeresspiegelanstieg in Europa.
Die Auseinandersetzung mit dieser klimatischen Auswirkung führte mich zur Frage, wie die Menschen damit umgehen, wie sie sich anpassen, was sie (nicht) denken und (nicht) fühlen. Diesen Themenkomplex möchte ich durch meine Arbeit Die Flut kommt immer nachts auf mehreren Ebenen sinnlich erfahr- und erlebbar machen. Wer sich mit dem Klimawandel beschäftigt, trifft vor allem auf Zahlen, Grafen und Statistiken für die globale Erwärmung. Dabei gibt es wenige Momente, welche einen direkten sinnlichen Zugang schaffen und sich im Hier und Jetzt konkret erfahren lassen.
Den Zusammenhang zwischen der Gesellschaft und den Auswirkungen des Klimawandels herzustellen, erscheint mir auf mehreren Ebenen unverzichtbar, denn sie wird es treffen und sie kann genauso aktiv werden und sich auf eine bestimmte Art und Weise zu dieser Krise verhalten.
Beginn der Arbeit bildet die Geschichte um die Zukunftsvision eines kleinen Dorfes an der Ostsee: Börrgerende, 2050.
Ausgangspunkt meiner Arbeit Die Flut kommt immer nachts (2020–2023) ist der Meeresspiegelanstieg durch den menschengemachten Klimawandel. Dabei beziehe ich mich auf die von einem internationalen Forscher*innenteam erstellte, interaktive Karte zum Meeresspiegelanstieg weltweit: https://coastal.climatecentral.org/. Für die Auswahl der Orte, die ich dokumentieren wollte, setzte ich in dieser Karte den Parameter 2050 und beschränkte mich auf meinen Kulturkreis: Europa. Es erschienen einige rot markierte Bereiche in der Karte, welche um 2050 betroffen sein könnten. Dabei bezieht sich die Karte auf einen Anstieg, der erweiterte Schutzmaßnahmen wie den Bau von Schleusen und höherer Deiche beispielsweise nicht mit einberechnet.
Die rot markierten, vom Anstieg bedrohten Gebiete ziehen sich wie ein roter Faden durch meine Arbeit, da ich diese aufsuchte und sowohl fotografisch als auch filmisch festhielt. Die Fotografien und Filme haben einen sehr subjektiven Duktus, da ich eine Atmosphäre der Bedrohung und des Unbehagens evozieren möchte, um dadurch möglichst viele Wege der Wahrnehmung anzusprechen. An dieser Stelle dockt auch meine Titelwahl an: Die Flut kommt immer nachts beinhaltet die Nacht zum einen als dunkles, unheimliches Konstrukt, das Angst macht, und zum anderen soll dadurch angedeutet werden, dass unsere Gesellschaft Gefahr läuft, diese kommende Flut einfach zu verschlafen und somit im Schlaf und machtlos von ihr überrascht zu werden.
Dazu kommt, dass der Klimawandel als komplexes und vielschichtiges, gesellschafts-politisches Thema viele verschiedene Gefühle und Reaktionen bei den Menschen auslöst. Sei es Wut, Desinteresse, Abwendung oder Panik und dabei spielt es auch eine Rolle, in welchen Kulturkreisen, politischen System und Milieus man sich befindet und wie das Thema in diesen verhandelt oder nicht verhandelt wird. Daher entschied ich mich für eine subjektiv gefärbte Zugangsweise in meiner Arbeit, die sich mit meinem eigenen Kulturkreis und Blick, einem eurozentristischen als weiße Fotografin, auseinandersetzt.
Ich fotografierte weitere betroffene Orte und Landstriche in Deutschland, Frankreich, Italien, Polen und den Niederlanden. Diese Orte sollen dem oder der Betrachter*in bekannt vorkommen.
Ausgangspunkt und Beginn der Arbeit bildet die Geschichte um eine Zukunftsvision eines kleinen Dorfes an der Ostsee: Börrgerende, 2050. Einem kleinen Dorf an der Ostsee droht die Überflutung durch den Anstieg des Meeresspiegels und damit einhergehend die Umsiedlung ins Landesinnere; das Ende also, so wie vielen Küstenregionen weltweit. Es herrscht Endzeitstimmung – eine Stimmung, die zwischen Angst und letzter noch nicht ganz erloschener Hoffnung oszilliert. Man weiß es schon so lange, wartet im Grunde auf die Flut, doch das scheint niemand wirklich zu realisieren. Es ist zu heiß.
Ich fotografierte weitere betroffene Orte und Landstriche in Deutschland, Frankreich, Italien, Polen und den Niederlanden. Diese Orte sollen dem*der Betrachter/*in bekannt vorkommen – hier gehe ich von einem/*einer Betrachter/*in aus, die*der in Europa lebt oder schon einmal hier war –, und er/*sie sollte eine bestimmte Nähe oder im weitesten Sinne eine Verbindung zu diesen herstellen können. In den Fotografien und dem Film dokumentiere ich sehr subjektiv gefärbt die Orte in der Gegenwart und verweise gleichzeitig auf eine Zukunftsvision, sodass sich automatisch Assoziationen und Bilder entwickeln, die in der Zukunft liegen und die den Jetzt-Zustand bedrohen. Dazu kommt, dass die Zeitebene der Vergangenheit auch immer eine große Rolle spielt in der Klimawandel-Thematik, denn vor allem durch die westlichen Kohlenstoffdioxid-Emissionen befinden wir uns in dieser misslichen Lage. Diese Vermischung der Zeitebenen wollte ich provozieren, ganz nach dem Motto: Heute ist das Gestern von Morgen. Dies stellt auch einen Grund dar, wieso ich mich für das Schwarzweiß im Film und in der Fotografie entschied. Der Zeit-, Ort- und Realbezug sollte so verschwimmen.
Schwarzweiß-Fotografie und -Film werden automatisch assoziiert und verbunden mit den Anfängen der Fotografie und mit einem im Grunde dokumentarischen Anliegen, das „Wahrheit“ verspricht. Dazu kommt, dass die Tageszeit und auch der Ort unklarer bleiben, denn das Licht und die Farben im Süden Europas sind beispielsweise andere als die im Norden. Durch die ästhetische Entscheidung Schwarzweiß bekommen die Orte somit eine Verbindung.
Lizensierung
© Annemie Martin (2020-2023)