Klima, Kollaps, Kommunikation

Perspektiven auf das Climate Endgame

Ein Artikel von Markus Wissen und Ulrich Brand

Kapitalismus am Limit

Eine Verortung zwischen öko-imperialen Spannungen und solidarischen Perspektiven

Im Jahr 2022 sorgte eine Gruppe prominenter Klimaforscher*innen für Aufsehen. Das internationale Team warnte vor der Gefahr eines möglichen Climate Endgame.[1] Die Klimakrise, so das Argument, könnte sich zu einer globalen Katastrophe entwickeln, die nicht nur den Kollaps von Gesellschaften, sondern die komplette Auslöschung der Menschheit zur Folge haben würde. Wir sollten daher ernsthaft auch mögliche Worst-Case-Szenarien analysieren. Zu diesem Zweck schlagen die Klimawissenschaftler*innen Untersuchungen vor, die neben der Modellierung von Risiko-Kaskaden und extremen Temperaturanstiegen auch die Erforschung von früheren gesellschaftlichen Zusammenbrüchen beinhalten. 

Bemerkenswert an dem Climate-Endgame-Text ist zweierlei: Zum einen werfen die Autor*innen äußerst dringende und relevante Fragen auf. Ihre Annahme, dass alles noch schlimmer kommen könnte als in den bisher entwickelten Szenarien vorhergesagt, klingt durchaus plausibel.

Umso auffälliger ist es zum anderen, dass sich die vorgeschlagene Forschungsagenda nahezu gänzlich über die gesellschaftlichen Ursachen der Klimakrise ausschweigt: über die ihr zugrunde liegenden sozialen Verhältnisse und die Akteure, die eine Katastrophe vielleicht noch verhindern könnten. Um was genau wird beim Climate Endgame gespielt? Wer sind die Spielerinnen und Spieler? Spielen sie alle mit denselben Voraussetzungen, oder starten einige mit einem riesigen Sack voller Macht und Geld, während die anderen eher schlechte Karten haben? Wer bestimmt die Spielregeln? Und arbeiten in diesem makabren Spiel wirklich alle darauf hin, den Worst Case möglichst zu verhindern? Solche Fragen sucht man in dem Text vergeblich. Wenn es ums Ganze der Menschheit geht, so ließe sich die implizite Prämisse etwas überspitzt charakterisieren, dann zählen primär die harten naturwissenschaftlichen Fakten. Mit sozialwissenschaftlichen Differenzierungen kann man sich folglich nicht länger aufhalten, denn schließlich sitzen alle im selben Boot, und das droht akut zu sinken.

Das vorliegende Kapitel erschien in ähnlicher Fassung zunächst in: Ulrich Brand/Markus Wissen: Kapitalismus am Limit. Öko-imperiale Spannungen, umkämpfte Krisenpolitik und solidarische Perspektiven, München: oekom 2024.[2]

Die Autor*innen des Endgame-Textes lassen sich den Erdsystemwissenschaften zurechnen. Diese befassen sich mit den ganz großen Fragen: den „planetaren Grenzen“ oder dem Übergang der Menschheit in ein neues Erdzeitalter namens „Anthropozän“. Zunehmend werfen sie auch einen Seitenblick auf die sozialen Dimensionen der ökologischen Krise: Sie nehmen zur Kenntnis, dass soziale Ungleichheit ein Krisentreiber ist, und merken kritisch an, dass diejenigen, die am wenigsten Verantwortung für die Krise tragen, am stärksten von ihr betroffen sind. Um bei der Bootsmetapher zu bleiben: Die einen fahren auf einem luxuriösen Dampfer, emittieren dabei große Mengen von CO2 und wappnen sich gleichzeitig gegen die Folgen dieses Tuns, während die anderen in simplen Booten sitzen, die sich zwar weitgehend klimaneutral fortbewegen, auf denen sie aber den von den Reichen verursachten Klimaturbulenzen ungeschützt ausgesetzt sind.

Nach den gesellschaftlichen Verhältnissen, die diese Ungleichheiten hervorbringen, fragen die Erdsystemwissenschaften jedoch nur selten. Eher scheint die Überzeugung vorzuherrschen, dass die dramatischen Befunde irgendwann schon aufrütteln würden, dass „die Macht“ in Form von staatlichen und gesellschaftlichen Entscheidungsträgern letztlich nicht mehr umhinkönne, „der Wahrheit“, also der Wissenschaft, Gehör zu schenken und deren Erkenntnisse in eine wirksame Krisenpolitik zu übersetzen. „Die effektive Kommunikation der Forschungsergebnisse wird entscheidend sein“, schreiben die endgame-Autor*innen hoffnungsvoll.[3]

Nicht zuletzt die Erfahrungen mit der deutschen Ampel, die 2021 als „Fortschrittskoalition“ gestartet war und die soziale Marktwirtschaft als sozial-ökologische Marktwirtschaft neu begründen wollte, zeigen, dass es sich bei dieser Hoffnung um einen Trugschluss handelt.[4] Das liegt nur zum Teil daran, dass in der Ampel mit der FDP eine reformresistente Klientelpartei über ein enormes Erpressungspotenzial verfügt und nicht zögert, dieses bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu aktivieren. Das Problem hat vielmehr tiefere Ursachen: Die Apparate des kapitalistischen Staates verfügen über eine enorme Kapazität, noch das größte Problem kleinzuarbeiten oder gar zu ignorieren. Wird dann doch einmal ein ambitionierterer politischer Entwurf gewagt, so gerät dieser schnell in die Mühlen einer durch die Boulevardpresse verstärkten konservativ-populistischen Meinungsmache. Ganz ähnlich kann man das in Österreich beobachten, wo die konservativ-grüne Regierungskoalition Anfang 2020 mit dem Motto „Das Klima und die Grenzen schützen“ antrat. Die ÖVP, große Teile der staatlichen Apparate, in denen es bis heute kaum ökologische Orientierungen gibt, sowie konservative Medien und der Boulevard erschweren eine weitreichende sozial-ökologische Politik.

„Die Apparate des kapitalistischen Staates verfügen über eine enorme Kapazität, noch das größte Problem kleinzuarbeiten oder gar zu ignorieren." – Markus Wissen und Ulrich Brand

Das ist kein Zufall und auch nicht nur eine Frage der Parteienkoalition, die im jeweiligen Parlament gerade über eine Mehrheit verfügt. Vielmehr handelt es sich, so eine bereits 50 Jahre alte, aber immer noch treffende Formulierung von Claus Offe, um „die nicht-zufällige (d. h. systematische) Restriktion eines Möglichkeitsraumes“:[5] Staatliche Politik ist strukturell begrenzt durch gesellschaftliche Orientierungen und tief verankerte Herrschaftsverhältnisse, die sich in die staatlichen Apparate (Ministerien, Parlamente oder Notenbanken) einschreiben, vom staatlichen Personal verinnerlicht werden und den Horizont dessen abstecken, was politisch als möglich gilt. 

So müssen Umweltpolitiker*innen, die für den Übergang zur Elektro-Automobilität kämpfen, zwar mit dem Widerstand der Verfechter fossiler Freiheiten rechnen. Aber ihr Anliegen ist dennoch anschlussfähig an die grundlegenden Logiken, die in Gesellschaft und Staatsapparaten walten: die Logik der Innovation, der Stärkung einer Kernindustrie des nationalen Exportmodells, des Erhalts von Arbeitsplätzen für eine mehrheitlich männliche Industriearbeiterschaft, des Ausbaus automobiler Infrastrukturen, der automobilen Lebensweise. Wer sich dagegen für eine – aus klimapolitischen Gründen dringend gebotene – Überwindung des autozentrierten Verkehrssystems und der automobilen Lebensweise einsetzt, gerät mit genau diesen Logiken in Konflikt. Solch ein Anliegen befindet sich jenseits des Horizonts dessen, was als sag- oder machbar gilt, es hat den viel beschworenen „Boden der Realität“ verlassen – einer sehr spezifischen Realität freilich, die sich systematisch gegen eine problemadäquate Wahrnehmung und Behandlung der sehr realen Klimakrise sperrt. Hier auf die aufrüttelnde Wirkung wissenschaftlicher Befunde und eine effektive Kommunikation derselben zu vertrauen, ist ein unzureichendes und mitunter durchaus frustrierendes Unterfangen. 

Das gilt noch stärker im Hinblick auf internationale Organisationen, in die sich die Kräfteungleichgewichte einer fossil getriebenen Weltwirtschaft noch viel unvermittelter einschreiben können als in die zumindest teilweise noch liberal-demokratisch ausbalancierten nationalen Arenen. Dies zeigte etwa die Weltklimakonferenz 2023 in Dubai. Sie wurde vom Industrieminister der Vereinigten Arabischen Emirate, Sultan Ahmed al Dschabir, geleitet, der gleichzeitig dem staatlichen Ölkonzern vorsteht. Die vermeintliche Kraft des besseren, weil durch wissenschaftliche Einsichten gestützten Arguments kollidierte hier besonders augenfällig mit den Interessen einer fossilistischen Politik und Ökonomie, die versuchen, auch die umweltpolitischen Arenen zu übernehmen.

Kapitalismus am Limit

Damit wollen wir nicht sagen, dass man sich gar nicht erst auf (internationale) staatliche Politik und bürgerliche Öffentlichkeit einlassen und versuchen sollte, den Horizont des hier Sag- und Machbaren zu erweitern. Es ist aber wichtig, sich der systemischen Grenzen eines solchen Unterfangens ebenso bewusst zu sein wie der Tatsache, dass dieses nur dann erfolgreich sein kann, wenn es vom Rückenwind progressiver gesellschaftlicher Kräfte angetrieben wird. Letztlich kommt es darauf an, die politischen Handlungsmöglichkeiten dadurch zu erweitern, dass die sie einschränkenden gesellschaftlichen Verhältnisse überwunden werden: Verhältnisse, die nicht nur die Natur und nicht-menschliche Lebewesen im großen Stil zerstören, sondern in denen auch der Mensch – als Teil der Natur – „ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.[6] 

Dazu bedarf es eines klaren Blicks auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und die oft als selbstverständlich oder natürlich hingenommenen Logiken, die unserer Lebensweise zugrunde liegen – und die keineswegs selbstverständlich oder alternativlos sind. Wir brauchen ein Verständnis des Kapitalismus und dessen vielfältiger Verbindungen mit patriarchalen, rassifizierten und kolonialen Herrschaftsverhältnissen. Und vor allem brauchen wir angesichts der tiefen Krise, in der wir uns befinden, eine Vorstellung von den Grenzen des Kapitalismus, genauer gesprochen von den vielfältigen Grenzen, an die kapitalistische Gesellschaften aufgrund der ihnen innewohnenden Funktionslogiken heute stoßen und die sie mit katastrophalen Folgen zu überschreiten drohen.

Über die Autoren

Portrait Markus Wissen

Markus Wissen

Portrait Ulrich Brand

Ulrich Brand

Unsere These ist, dass die kapitalistische Produktionsweise und die mit ihr verbundene imperiale Lebensweise die entscheidende Ursache dafür sind, dass die Menschheit die planetaren Grenzen überschreitet und sich in einen potenziell katastrophischen Bereich manövriert. Dies führt zu vielfältigen Konflikten, die die Krise potenziell noch verschärfen, in denen aber auch solidarische Alternativen aufscheinen.

Der Kapitalismus ist aufgrund der ihm innewohnenden Konkurrenz-, Wachstums- und Profitlogik strukturell blind gegenüber seinen eigenen sozialen und ökologischen Voraussetzungen. Der Zwang, wachsen und in einem Konkurrenzumfeld profitabel sein zu müssen, führt kapitalistische Unternehmen auf Kollisionskurs mit den reproduktiven Notwendigkeiten der menschlichen und nicht-menschlichen Natur. Für unzählige Menschen und nicht-menschliche Lebewesen bedeutete dies auch in der Vergangenheit schon enormes Leid oder gar Tod. Soziale und ökologische Standards im Sinne von Grenzziehungen mussten und müssen der Kapitalseite und dem Staat in harten Kämpfen immer wieder abgetrotzt werden.

In den geographischen Räumen und den sozialen Klassen hingegen, in denen sich die kapitalistischen Reichtümer konzentrieren, wird die sozial-ökologische Destruktivität der Produktion und des Warenkonsums kaum als solche empfunden, sondern in der Öffentlichkeit sowie in den Alltagspraktiken und -wahrnehmungen zum Verschwinden gebracht. Lange Zeit ließen sich die Krisen verbergen: indem das Kapital sozial-ökologische Kosten in den globalen Süden, auf Arbeiter*innen, auf unbezahlte Reproduktionsarbeit oder auf künftige Generationen verlagerte; indem es immer neue Sphären der Rohstoff-Extraktion erschloss; oder indem es sogar noch im Umweltschutz ein Geschäftsfeld entdeckte. Meist bereitete dabei die gewählte Form der ökologischen Problembearbeitung die nächste, noch tiefere Krise schon vor, die Problembearbeitung war also eher eine Problemverlagerung. Die energetische Nutzung von Kohle etwa wirkte zu Beginn der Industrialisierung einem anderen ökologischen Problem entgegen, nämlich der Holzkrise. Auf lange Sicht ebnete sie jedoch den Weg in ein viel größeres Problem: die Klimakrise. 

Das Neue an der gegenwärtigen Situation ist, dass sich die systemimmanenten Möglichkeiten, sozial-ökologische Krisen durch räumliche und zeitliche Verlagerungen zu bearbeiten, der Erschöpfung nähern. Anders gesagt: Die dem Kapitalismus innewohnende Tendenz der Grenzverschiebung gerät selbst an ihre Grenzen. Die Indizien dafür häufen sich. Und sie bemächtigen sich zunehmend des Alltags auch der Menschen im globalen Norden. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, um die sich zuspitzenden Katastrophen durch einen konsequenten Klimaschutz und durch wirksame Politiken der Klimaanpassung in ihren negativen Auswirkungen auf Mensch und Natur zumindest zu begrenzen. Deutschland etwa wird voraussichtlich bereits Mitte des Jahrhunderts „mindestens zwei Grad wärmer sein als zu Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Sommertage mit mehr als 30 Grad werden dann völlig normal sein, die Spitzentemperaturen 40 Grad überschreiten, die Zahl der tropischen Nächte (in denen die Temperatur nicht unter 20 Grad sinkt) wird sich verdoppeln.“[7]

Dabei ist die Klimakrise nur eines der Phänomene, die als Resultat ökologischer Grenzüberschreitungen krisenhaft in den Alltag hineinwirken. Eine weitere, für viele traumatische und in ihren Auswirkungen höchst ungleiche Krise war die Corona-Pandemie. Sie lässt sich nicht losgelöst von der Expansion einer kapitalistisch-industriellen Landwirtschaft begreifen. Denn in dem Maße, wie die Massentierhaltung zunimmt und Lebensräume für Tiere durch Abholzung und Monokulturen zerstört werden, wächst die Gefahr von Zoonosen: Menschen geraten mit Wildtieren in Kontakt. Mikroorganismen werden auf menschliche Körper übertragen, wo sie gefährliche Krankheiten auslösen können. SARS-CoV-2 ist das Resultat einer Strategie grenzenloser Expansion, die plötzlich an Grenzen gerät.[8]

Die Krise ist nicht länger lokal begrenzt, sondern global. Sie ist auch nicht länger ein zukünftiges Phänomen, das für Teile der Menschheit, vor allem die Wohlhabenden im globalen Norden, primär über wissenschaftliche Beschreibungen zugänglich wäre. Vielmehr bricht die sozial-ökologische Krise auf vielfache Weise auch in den Alltag derer ein, die bislang – auf sehr unterschiedliche Weise – von der kapitalistischen Naturzerstörung in Form der imperialen Lebensweise profitierten. Trotzdem bleibt diese inklusive des Versuches, ihre negativen Folgen zu verlagern, weiterhin attraktiv, und interessierte politische und ökonomische Kräfte tun viel dafür, sie auf Dauer zu stellen.

Die Krise wird dadurch verschärft, dass der Bedarf an Rohstoffen und Energie für die globale kapitalistische Produktions- und Wachstumsmaschinerie immer noch zunimmt, nicht zuletzt durch die Digitalisierung und partielle Dekarbonisierung. Die Folgen dieser Entwicklung sind immens: Die „billige Natur“[9] in Form von Rohstoffen, Energie oder CO2-Senken, auf die der Kapitalismus angewiesen ist, wird teurer und ist zunehmend umkämpft. Zudem lassen sich die Kosten der bereits entstandenen und künftig zu erwartenden Schäden aus Katastrophenereignissen wie der Überflutung im Ahrtal oder den Waldbränden in Griechenland kaum quantifizieren. Im selben Maße, wie der Kapitalismus die Menschheit in das ungewisse Terrain jenseits der planetaren Grenzen befördert, sieht er sich also mit immer höheren selbst verursachten Kosten konfrontiert und untergräbt seine eigenen Existenzbedingungen.

Umkämpfte Krisenpolitik

All dies bedeutet nicht, dass das Ende von Kapitalismus und liberaler Demokratie unmittelbar bevorstünde. Vielmehr befinden wir uns in einer Phase des Übergangs, deren Verlauf und Dauer ebenso ungewiss sind wie das, was nach ihr kommt.

Es ist eine Phase der Suchprozesse und Kämpfe, die durchaus auch kurzzeitige, sehr selektive Stabilisierungen in Gestalt eines autoritären und/oder ökologisch modernisierten Kapitalismus beinhalten kann. So werden aktuell weltweit die Produktionsanlagen und Infrastrukturen für erneuerbare Energien stark ausgebaut, insbesondere im Strombereich. Viele Staaten haben sich zum Ziel gesetzt, ihre Ökonomien zu dekarbonisieren und klimaneutral zu werden. Insofern leben wir auch und gerade wegen der Krisen in einer Zeit der dynamischen Restrukturierung des Kapitalismus, die in vielerlei Hinsicht nicht nur von den wirtschaftlichen und politischen Eliten, sondern auch von breiten Teilen der Bevölkerung willkommen geheißen oder zumindest als alternativlos angesehen wird. Die Ökologisierung des Kapitalismus mit dem Fokus auf seiner Dekarbonisierung hat in den letzten Jahren also deutlich an Konturen gewonnen. 

Gleichzeitig steigen der Verbrauch fossiler Energieträger und entsprechend deren Förderung weltweit weiter an – buchstäblich befeuert durch einen wachsenden Energiebedarf der Weltwirtschaft etwa im Zuge der Digitalisierung, aber auch durch hohe Energiepreise, die die Investitionen in die Förderung und Verbrennung fossiler Energieträger attraktiv machen. Im Jahr 2022 wurden 80 Prozent der globalen Energie mit Erdöl, Kohle/Torf und Erdgas erzeugt, elf Prozent mit Biokraftstoffen – die nicht per se ökologisch und sozial nachhaltig sind – und nur jeweils ein Prozent mit Windenergie und Photovoltaik.[10] Christian Zeller zufolge investiert das fossile Kapital „nach einigen Jahren zurückhaltender Investitionstätigkeit wieder verstärkt in die Erneuerung und Erweiterung der fossilen Infrastruktur“.[11]

Die ökologische Modernisierung des Kapitalismus – das deutet sich in diesen Entwicklungen an – birgt durchaus ökonomische und ökologische Potenziale. Aber sie konkurriert oder koexistiert mit fossilen Strategien und den konservativen sowie rechtsautoritären Kräften, die diese verfolgen. Die Kehrseite eines Grünen Kapitalismus, eines autoritär-fossilen Entwicklungsmodells oder einer denkbaren Kombination zwischen autoritär-fossilen und grünen Elementen in den Zentren sind weiter zunehmende Katastrophen: sowohl an der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems als auch im Verhältnis zwischen Zentren und Peripherien und im Verhältnis der Zentren untereinander. Keineswegs ausgeschlossen ist auch ein „Kollaps“ in dem Sinne, dass Infrastrukturen wegbrechen, die für die Versorgung mit basalen Gütern und Dienstleistungen – Lebensmitteln, Kleidung, Energie oder Wohnraum – essentiell sind.[12]

Genau aus diesem Grund müssen auch die kritischen Sozialwissenschaften – im Verbund mit emanzipatorischen gesellschaftlichen und politischen Kräften und bezogen auf deren Kämpfe – die großen Fragen stellen. Das sind weniger Fragen nach den planetaren Grenzen – diesen widmen sich die Erdsystemwissenschaften. Im kritischen Dialog mit letzteren wäre vielmehr die Frage nach den Funktionsmechanismen und Grenzen eines sozialen Systems mit seinen immer zerstörerischen kapitalistischen Naturverhältnissen aufzuwerfen, das die Menschheit mit fatalen und höchst ungleich verteilten Folgen über die planetaren Grenzen hinaus zu katapultieren droht.

Solidarische Perspektiven

Sicherlich wäre es ein mühsames Unterfangen, dieser Frage nachzugehen, ohne dass die Kritik des Bestehenden die Chance hätte, zur praktischen Kritik im Handgemenge zu werden. Aber diese Chance besteht. Denn trotz der und gegen die dystopisch anmutenden Entwicklungen gibt es relevante gesellschaftliche Kräfte, die eine grundlegende sozial-ökologische Transformation vorantreiben. Die Bewegung für Klimagerechtigkeit und ihre jüngsten und dynamischsten Teile, Fridays for Future (FFF) und Letzte Generation (LG), tut dies vor allem im Hinblick auf das Verhältnis zwischen den Generationen: Die ökologischen Hinterlassenschaften der heute Lebenden, so das Argument, schränken die Möglichkeiten künftiger Generationen zu einem selbstbestimmten Leben drastisch ein. Die linke Strömung von FFF hat diese Sichtweise um eine Analyse der sozialen Verhältnisse innerhalb der Generationen erweitert. Demnach gibt es heute wie in der Zukunft Gewinner*innen und Verlierer*innen der ökologischen Krise. Damit rücken etwa Klassen-Fragen ins Zentrum, der Protest verschiebt sich von Appellen an „die Politik“, den Interessen künftiger Generationen Rechnung zu tragen, zur konkreten Intervention beispielsweise in betriebliche und tarifpolitische Auseinandersetzungen.[13] 

Der in der Arbeiter*innenbewegung und von Seiten der Gewerkschaften erhobenen Forderung nach einer Just Transition, einem gerechten Strukturwandel, wohnt die Verbindung von ökologischer und Klassenfrage schon terminologisch inne. Allerdings wird sie in sehr unterschiedlicher Radikalität thematisiert: einerseits in eher dialogorientierten Ansätzen, die das Problem vorrangig in den Beschäftigungswirkungen des Übergangs sehen – also im drohenden oder bereits stattfindenden Abbau von Arbeitsplätzen im Bergbau, der Autoindustrie oder anderen Problembranchen; andererseits in radikalen Positionen, die aus einer internationalistischen Perspektive die Ungerechtigkeit des Status Quo beim Namen nennen und sich für einen grundlegenden Strukturwandel und für eine gebrauchswertorientierte Reorganisation der Ökonomie einsetzen.[14]

Das ist auch die Stoßrichtung von dekolonialen und (öko-)feministischen Bewegungen, die die Klimakrise als Teil neokolonialer Nord-Süd-Beziehungen und einer umfassenden Krise der sozialen Reproduktion begreifen. Neben dem Kampf gegen patriarchale Gewalt sowie für eine Aufwertung von Sorgearbeit und sozialen Infrastrukturen geht es dabei zunehmend auch um die Frage, wer für die Kosten der Klimafolgenanpassung aufzukommen hat, wie diese so gestaltet werden kann, dass soziale und globale Ungleichheiten abgebaut werden, und welche Reparationen von Seiten des globalen Nordens als Ausgleich für die Schäden zu zahlen sind, die die Klimakrise im globalen Süden bereits verursacht hat.[15] 

Viele dieser Ansätze konvergieren in der Degrowth- und Postwachstumsdebatte, die sich in jüngerer Zeit sehr dynamisch entwickelt hat.[16] In ihr gehen kapitalismuskritische, dekoloniale und feministische Ansätze, kritische Sozialwissenschaft und emanzipatorischer Aktivismus eine sehr lebendige und fruchtbare Verbindung ein. Ausgehend von einer Vielzahl von Kämpfen um eine sozial-ökologische Alternative zum Bestehenden wird die reale Utopie einer Welt entwickelt und in Ansätzen praktiziert, die die absolute Reduktion des Ressourcenverbrauchs und der Umweltbelastung mit einem Zuwachs an Gleichheit und Demokratie verknüpft. Der japanische Philosoph Kohei Saito hat jüngst das ökologische Denken des (späten) Marx für die Postwachstumsdebatte fruchtbar gemacht und deren Zielhorizont auf den Begriff des „Degrowth-Kommunismus“ gebracht.[17] 

Die tiefe Krise, in der wir uns befinden, hat viel dystopisches Potenzial. Oft scheint es so, als gehe es nur noch um eine „Überlebenswirtschaft“ (Ulrike Herrmann).[18] Die Widersprüche des Kapitalismus werden aber auch auf eine emanzipatorische Weise politisiert. Wir befinden uns mithin in einem Kairos-Moment: einer keineswegs völlig offenen, aber gestaltbaren Situation, in der soziale Kämpfe geführt werden, die über die Zukunft der Menschheit mitentscheiden.

Dieser Text beruht auf der Einleitung unseres Buches Kapitalismus am Limit. Öko-imperiale Spannungen, umkämpfte Krisenpolitik und solidarische Perspektiven, das 2024 bei oekom, München, erschienen ist. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des oekom-Verlags, unser Dank gilt Dr. Laura Kohlrausch.

Lizensierung

Markus Wissen und Ulrich Brand (2024) Creative Commons-Lizenz CC BY 4.0.

  1. 1

    Kemp, Luke et al. (2022): „Climate Endgame: Exploring Catastrophic Climate Change Scenarios“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 119, 34, e2108146119. https://doi.org/10.1073/pnas.2108146119.

  2. 2

    Dieser Text beruht auf der Einleitung unseres Buches Kapitalismus am Limit. Öko-imperiale Spannungen, umkämpfte Krisenpolitik und solidarische Perspektiven, das 2024 bei oekom, München, erschienen ist. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des oekom-Verlags, unser Dank gilt Dr. Laura Kohlrausch.

  3. 3

     Siehe SPD/Grüne/FDP (2021): Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, S. 5. https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf.

  4. 4

    Offe, Claus (1973): Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur politischen Soziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 78.

  5. 5

    Marx, Karl (2006 [1844]): „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“, in: Marx-Engels Engels-Werke. Bd. 1: 1839–1844, Berlin: Dietz-Verlag, S. 378–-391, hier: S. 385.

  6. 6

    Reimer, Nick (2022): „Deutschland 2050. Was wir jetzt schon über das Leben in der Heißzeit wissen“, in: LuXemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 2, S. 13–19, hier: S. 15.

  7. 7

     Marx, Karl (2006 [1844]): „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“, in: Marx-Engels Engels-Werke. Bd. 1: 1839–1844, Berlin: Dietz-Verlag, S. 378–-391, hier: S. 385.Offe, Claus (1973): Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur politischen Soziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 78.

  8. 8

    Siehe SPD/Grüne/FDP (2021): Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, S. 5. https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf.

  9. 9

    Offe, Claus (1973): Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur politischen Soziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 78.Siehe SPD/Grüne/FDP (2021): Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, S. 5. https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf.

  10. 10

    Marx, Karl (2006 [1844]): „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“, in: Marx-Engels Engels-Werke. Bd. 1: 1839–1844, Berlin: Dietz-Verlag, S. 378–-391, hier: S. 385.Offe, Claus (1973): Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur politischen Soziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 78.

  11. 11

    Reimer, Nick (2022): „Deutschland 2050. Was wir jetzt schon über das Leben in der Heißzeit wissen“, in: LuXemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 2, S. 13–19, hier: S. 15.Marx, Karl (2006 [1844]): „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“, in: Marx-Engels Engels-Werke. Bd. 1: 1839–1844, Berlin: Dietz-Verlag, S. 378–-391, hier: S. 385.

  12. 12

    Wallace, Rob; Liebman, Alex/Chaves, Luis Fernando/Wallace, Rodrick (2020): „COVID-19 and Circuits of Capital“, in: Monthly Review 72, 1. https://dx.doi.org/10.14452/MR-072-01-2020-05_1. Brad, Alina; Brand, Ulrich; Krams, Mathias (2021): „Über Möglichkeiten und Herausforderungen sozial-ökologischer Transformation in der Corona-Krise“, in: Corona-Monitor (Hg.): Corona und Gesellschaft. Soziale Kämpfe in der Pandemie, Wien: Mandelbaum-Verlag, S. 54–64.

  13. 13

     Zu diesem Begriff siehe Patel, Raj/Moore, Jason W. (2018): Entwertung. Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen, Berlin: Rowohlt.

  14. 14

    IEA (10.10.2023): „Verteilung der weltweiten Energieerzeugung nach Energieträger im Jahr 2022“ [Graph], in: Statista. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/167998/umfrage/weltweiter-energiemix-nach-energietraeger/.

  15. 15

    Zeller, Christian (2023): „Fossile Gegenoffensive – Grüner Kapitalismus ist nicht in Sicht“, in: Emanzipation. Zeitschrift für ökosozialistische Strategie 7, 2, S. 221–252.

  16. 16

    Vgl. Servigne, Pablo/Stevens, Raphaël (2022): Wie alles zusammenbrechen kann. Handbuch der Kollapsologie, Wien/Berlin: Mandelbaum.

  17. 17

    Siehe Autor*innenkollektiv Climate.Labour.Turn (2021): Mein Pronomen ist Busfahrerin. Die gemeinsame Kampagne von FFF und Ver.di zur Tarifrunde im öffentlichen Nahverkehr. Ein Beispiel für ökologische Klassenpolitik, Berlin: Rosa Luxemburg Stiftung, sowie https://klimaschutzundklassenkampf.org/.

  18. 18

    Der relativ jungen Disziplin der Environmental Labour Studies verdanken wir wichtige Einsichten in diese Ansätze. Siehe Räthzel, Nora/Stevis, Dimitris/Uzzell, David (Hrsg.) (2021): The Palgrave Handbook of Environmental Labour Studies, Houndmills: Palgrave Macmillan, sowie die kritische Rekonstruktion und Erweiterung des Ansatzes durch Schoppengerd, Stefan (2023): „Arbeit und sozial-ökologische Transformation. Eine kritische Rekonstruktion der Environmental Labour Studies“, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 53, 211, S. 343–360. https://doi.org/10.32387/prokla.v53i211.2058.