Ein Essay von Jörg Jelden und Gerriet Schwen
Klimakrise trifft Katastrophenschutz
Katastrophenschutz und Klimakrise werden zu selten zusammen gedacht – und das ist ein Problem. Wie gehen wir damit um, dass Katastropheneinsätze in Zukunft verstärkt unter neuen klimatischen Bedingungen stattfinden? Bislang gibt es in den Behörden zu praktischen Fragen wie diesen erschreckend wenig Austausch, wie ein Gespräch mit dem Referatsleiter für Öffentliche Sicherheit und Ordnung, Polizei, Brand- und Katastrophenschutz im niedersächsischen Innenministerium anmerkte. Als oberster Zuständiger für Großschadenslagen in Niedersachsen sagte Michael Czeszak am Telefon: „Die Krisen und Katastrophen der Zukunft werden nicht nur mehr, sondern auch anders als in der Vergangenheit.“ Genau das hat uns dazu bewogen, zu einem experimentellen Forschungsraum in Form einer Simulation einzuladen. Und Interesse daran gab es sofort von vielen Stellen: Wir bekamen Anmeldungen von der Koordinatorin für Klimaanpassung Region Hannover, der Einsatzplanung der Berufsfeuerwehr Hannover, Fachberater*innen vom THW, Stadtentwässerung und dem Niedersächsischen Landesamt für Brand- und Katastrophenschutz. Immer wieder hieß es: Eine organisationsübergreifende Simulation im Katastrophenschutz stünde schon lange aus. Beamte aus der Notfallversorgung des niedersächsischen Ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz schilderten ihre Sorge, dass es zu katastrophalen Lieferengpässen in der Lebensmittelversorgung kommen könnte, und kritisierten die weit verbreitete Annahme, der Staat würde sich im Fall der Fälle um alle kümmern (können). Dabei gebe es in vielen Szenarien gar nicht die Kapazitäten, um die Gesellschaft flächendeckend mit Grundgütern zu versorgen. Angestellte der Stadtentwässerung und die Blaulichtorganisationen haben in den vergangenen Jahren selbst erlebt, wie die Behörden durch Starkregen an ihre Grenzen kamen. Die Wechselwirkung zwischen kurzfristigen Katastrophen wie den Überflutungen diesen Winter und langfristigen Herausforderungen wie der Klimaerhitzung wurde jedoch bislang kaum thematisiert. Wie würden sich neue Klimabedingungen auf Einsätze auswirken?
Insgesamt 30 Menschen aus Niedersachsen und Hannover mit einem Hintergrund in Krisenbewältigung und Katastrophenschutz wurden von ihren Organisationen entsandt, um gemeinsam mit uns einen Tag lang zu katastrophalen Zukünften zu spekulieren. Die Simulation wurde vom Forschungsprojekt „Das Endspiel in Zukunftsdiskursen“ in Kooperation mit dem Moderationstandem von komfortzonen.de umgesetzt. Bei komfortzonen.de beraten wir vor allem Firmen in der Organisationsentwicklung. Über die letzten Jahre hat uns immer mehr beschäftigt, wie wir Erfahrungen und Prozesswissen zu Transformation für die gesellschaftlichen Herausforderungen in Zeiten der Klimakrise einbringen können. Daher kam die Anfrage vom Forschungsteam Endspiel passend. Zusammen haben wir ein Format entwickelt, das es so noch nie gab!
Hannover, 3. Mai 2024. Die Türen des Kulturzentrums „Pavillon“ öffnen sich. Die Teilnehmer*innen kommen im Foyer an. Einige tragen ihren Dienstanzug, die meisten Alltagskleidung. Einige begrüßen sich, viele kennen sich nicht und nicken sich nur freundlich distanziert zu. Auf einem Poster lassen wir die Menschen visuell sichtbar machen, wer schon vernetzt ist. So wird noch vor der Begrüßung die erste, kleine Überraschung sichtbar: die Hannoveraner Akteure der Krisenbewältigung und des Katastrophenschutzes kennen sich jenseits ihrer Organisationen kaum. Die Rollen untereinander sind geklärt, die Felder abgesteckt. Aber es scheint wenig übergreifende Begegnungen zu geben.
Teilgenommen haben 30 Vertreter*innen folgender Organisationen:
Deutsches Rotes Kreuz; Johanniter; Technisches Hilfswerk Hannover/Lehrte; Berufs-Feuerwehr Hannover; Koordination Klimaanpassung Region Hannover; Krisenkommunikation der Niedersächsische Staatskanzlei; Brand- und Katastrophenschutz der Region Hannover; Infektionsschutz der Region Hannover; Hochwasserschutz, Starkregen und IT-Sicherheit der Stadtentwässerung Hannover; Konzernkommunikation und Netzführung enercity (städtischer Energieversorger); Klimaschutzagentur Hannover; Klimaschutzleitstelle Hannover; Ernährungsnotfallvorsorge des Ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Konzeption und Organisation: Gerriet Schwen und Larry Faust vom Forschungsprojekt “Das Endspiel in Zukunftsdiskursen” am Institut für Meteorologie und Klimatologie der Universität Hannover in Kooperation mit Jörg Jelden und Valentin Heyde von komfortzonen.de – einer Beratung für partizipative Strategie- und Organisationsentwicklung.
Viel spezialisiertes Fachwissen, wenig Simulationserfahrung
Nach Gerriets Begrüßung beginnen Valentin und ich die Verhältnisse innerhalb der Gruppe sichtbar zu machen. Wir wollen zeigen, wer wie stark im Raum vertreten ist und wer nicht. Wir bitten die Teilnehmenden, sich im Raum zu folgenden Fragen zu positionieren: Wer arbeitet seit Jahrzehnten in derselben Organisation? Wer ist Newcomer? Wer beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Katastrophen? Dabei wird deutlich: Zum Beispiel fehlen Vertreter*innen von Organisationen wie der Polizei oder der Bundeswehr. Das war keine Absicht, sondern lag wesentlich an der Eigendynamik wie die Einladung unterhalb der Akteure weitergeleitet wurde.
Wir wollen aber auch offenlegen, wie unterschiedlich die Erfahrungen im Raum sind: Menschen, die ganz frisch in ihrer Organisation angefangen haben und welche, die seit Jahrzehnten in der gleichen Organisation arbeiten. Menschen, die sich seit vielen Jahren mit Krisen und Katastrophen beschäftigen und solche, die da ganz am Anfang oder im Zuge der Corona-Pandemie in das Feld gewechselt sind. Dabei tritt die nächste Überraschung zutage: Mehr als zwei von drei Teilnehmer*innen haben bislang noch bei keiner oder maximal einer organisationsübergreifenden Krisen- oder Katastrophenübung mitgemacht. Vor allem die Menschen aus der Verwaltung geben an, keine Erfahrung mit Krisen-Simulationen oder Katastrophen-Übungen zu haben.
Irrational optimistischer Blick auf die Klimakrise
Daraufhin präsentiert Gerriet einige zentrale klimawissenschaftliche Fakten und sozialwissenschaftliche Perspektiven auf Klimakommunikation. Er verdeutlicht, dass wir uns als Menschheit gerade auf einem Pfad der Eskalation befinden. Seit Jahrzehnten sind grundlegende Informationen wie die Klimaschädlichkeit von Treibhausgasen bekannt, dennoch steigen die globalen Emissionen weiter. Seit dem ersten Bericht des Weltklimarats liegen die historischen Emissionen am nächsten am RCP8.5, dem folgenschwersten Szenario mit einem gemittelten globalen Temperaturanstieg von etwa 4,3°C gegenüber dem vorindustriellen Niveau.
Er führt weiter aus: Statt den globalen Anstieg der Temperatur auf 1,5°C gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen, haben im Februar 2024 die globalen Durchschnittstemperaturen erstmals zwölf Monate in Folge über 1,5°C gelegen.[2] Wo war der mediale Aufschrei, wo die breite öffentliche Debatte, wenn das Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 gebrochen oder zumindest massiv in Frage gestellt wurde? Vor diesem Hintergrund ist Umgang der Politik und der Medien mit der Klimakrise sowie der öffentliche Diskurs dazu irrational optimistisch und repräsentiert nicht den aktuellen Forschungsstand.
Basierend auf dem RCP8.5-Szenario müssen wir davon ausgehen, dass die Region Hannover bis zum Ende des Jahrhunderts folgende einschneidende Veränderungen erlebt:
Hitze: Die Anzahl der heißen Tage (über 30°C) steigt von derzeit 5-10 auf 23-28 pro Jahr an. Hitzewellen wie im Sommer 2003 oder 2018 werden die Norm, möglicherweise mit noch höheren Temperaturen.[3]
Dürre: Die Sommermonate, besonders Juli und August, werden deutlich trockener. Längere Dürreperioden belasten Stadtbäume, Landwirtschaft und Wasserversorgung. Die Hitzesterblichkeit, insbesondere bei älteren und geschwächten Menschen, steigt signifikant.[4]
Stürme und Überflutungen: Trotz insgesamt geringerer Sommerniederschläge nimmt die Gefahr von Sturzfluten durch Starkregen zu. Das Risiko von Sturmschäden steigt durch häufigere und intensivere Unwetter.[5]
Versorgungslagen: Die Wasserversorgung ist durch längere Trockenperioden und sinkende Grundwasserspiegel gefährdet. Ernteausfälle durch Hitze und Dürre führen zu Engpässen bei der Lebensmittelversorgung.[6]
Soziale Spannungen: Ungleiche Betroffenheit verschiedener Bevölkerungsgruppen von Klimafolgen verschärft soziale Ungleichheiten. Ressourcenknappheit und steigende Lebenshaltungskosten führen zu verstärkten sozialen Konflikten.[7]
Migration: Gebiete die heute für über die Hälfte der Menschen Heimat sind werden unbewohnbar. Es ist naheliegend, dass viele in den Norden Europas wollen.[8]
Im anschließenden Gespräch fällt auf: alle Teilnehmenden scheinen die Faktenlage zu kennen. Geschockt ist an dieser Stelle niemand. Zumindest lässt sich das niemand anmerken. Auch wenn nicht alle Details zum Ausmaß und der Dringlichkeit bekannt waren.
Spekulative Simulationen statt spektakulärer Katastrophen
Wenn das Wetter unvorhersehbarer und stärker von Extremereignissen geprägt wird, dann erfordert das ein anderes Verhalten und Planen. Es reicht nicht mehr, im Sommerurlaub nur die Sonnencreme einzupacken, sondern es braucht auch eine Katastrophenalarm-App und andere Reiseplanungen.
Was im Kleinen gilt, gilt auch im Großen. Gesellschaftlich kommen schon heute mehr, neue und multiple Schockereignisse wie Naturkatastrophen, Großunfälle oder Angriffe auf uns zu (Hypothese 1). Gleichzeitig treffen sie auf Organisationen und Institutionen, die mehr denn je von Polykrise[9] (Klima-, Biodiversitäts-, Energie-, Migrations-, … Demokratiekrise) geprägt sind (Hypothese 2). Daraus entsteht eine Mischung, die sich nicht mehr von einzelnen Akteuren lösen und nicht singulär bewältigen lässt (Hypothese 3). Es wird mehr denn je Improvisationsgabe gefragt sein. Und um improvisieren zu können, braucht es Übung und Vorstellungskraft (Hypothese 4).
Wenn wir szenisch-spekulieren, trainieren wir den Umgang mit Unsicherheit und Ungewissheit, mit Unwägbarkeiten und Umbrüchen.[10] Das Neue wird emotional-physisch erlebbar und ermöglicht Probehandeln. Wir erweitern unser Handlungsrepertoire und lernen geschickter zu improvisieren. Und im Fall der Fälle können wir auf ähnlich gelagerte Erfahrungen oder Pläne aus ganz anderen Kontexten zurückgreifen und übertragen. Vor diesem Hintergrund haben wir die Teilnehmenden spekulieren lassen und bewusst angeregt, zu überzeichnen und wild zu spekulieren.
Die Spekulation erfolgt auf zwei Ebenen: Ein Teil der Gruppe spekuliert zu Multi-Katastrophenereignissen, die Hannover unvorbereitet treffen mögen. Parallel dazu spekuliert ein anderer Teil dazu, wie ein von der Polykrise geprägtes Hannover 2035 wohl aussehen mag. Diese Aufteilung ist angelehnt an die Shocks-Slides-Shifts-Logik der US-amerikanischen Social-Justice Bewegung. Es unterscheidet zwischen kurzfristigen Schockereignissen (Shocks), längerfristigen Krisen (Slides) und den entstehenden Möglichkeiten, Paradigmen zu verschieben (Shifts).[11]
Katastrophen, Krisen und Kollaps
So haben wir folgende Begriffe im Rahmen der Veranstaltung verwendet:
Katastrophen: Ereignisse von kürzerer Dauer mit hoher Wirkmacht. Naturkatastrophen, Großunfälle oder Gewalteskalationen. Multi-Katastrophe: mehrere Katastrophen, die zusammentreffen.
Krisen: vermeintlich negative Entwicklungen längerer Dauer und/oder schleichender Zerfall. Polykrise: viele Krisen (z.B. Klima-, Demokratie-, Biodiversitäts-, Energie-, … Friedenskrise) die miteinander verbunden.
Kollaps: der längerfristige oder dauerhafte Zusammenbruch von (Sub-)Systemen.
Spekulative Katastrophen in Hannover
Basierend auf Katastrophensteckbriefen des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe skizzieren die Teilnehmer*innen drei spekulative Katastrophen.[12]
Spekulative Katastrophe 1: Ein Erdbeben der Stärke 6 trifft den Nordosten Hannovers an einem Freitagnachmittag in der Vorweihnachtszeit. Es herrschen ungewöhnlich starke winterliche Bedingungen. Das Epizentrum liegt in der Nähe einer Batteriefabrik, Wohngebieten mit hochgeschossigen Mehrfamilienhäusern, einem Altenheim sowie der vielbefahrenen Autobahn A2. Die Gruppe wählt es aus, weil es aufgrund der geringen Wahrscheinlichkeit von Erdbeben in Hannover keine Notfallpläne dafür gibt.
Spekulative Katastrophe 2: Als Folge tritt ein mehrere Tage dauernder Stromausfall ein mit vielen unvorhergesehenen Nebeneffekten über die Weihnachtsfeiertage.
Spekulative Katastrophe 3: Eine neue gefährliche Pandemie tritt erstmals auf. Sie überträgt sich über Tröpfen, hat eine hohe Infektiosität, eine Sterblichkeitsrate von 15% und infektiöse Leichen.[13]
Die Teilgruppe plant den spekulativen Katastrophenalarm so, dass zunächst das Erdbeben passiert und der Stromausfall als Folge erscheint. Während der Katastrophenbewältigung bricht dann die neue Krankheit aus.
Spekulatives Hannover 2035
Der andere Teil der Gruppe spekuliert derweil, wie Hannover im Jahr 2035 aussehen mag. Dazu nutzen wir die STEEPL-Kategorien: social, technological, economical, ecological, political-legislative. An fünf Tischen sammeln die Teilnehmermenden, was soziokulturell, technologisch, ökonomisch, ökologisch und politisch-legislativ auf die Welt, EU, Deutschland, Hannover, den Katastrophenschutz und die eigene Organisation zukommen mag. Diese Sammlung hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Wahrscheinlichkeit und darf auch Widersprüchliches enthalten.
Anschließend schreiben die Teilnehmer*innen sogenannte „Schlagzeilen aus der Zukunft“. Diese Technik wurde von Pablo Suarez vom Internationalen Roten Kreuz entwickelt, um mögliche zukünftige Ereignisse erlebbarer zu machen.[14] Dafür schreiben sie Nachrichten-Schlagzeilen aus dem Jahr 2035, die jeweils einzelne Zukunftsereignisse plastisch machen. Anbei sind einige der Schlagzeilen, die von den Teilnehmerenden entwickelt wurden.
Und Aktion!
Nach einer gemeinsamen Mittagspause geht es darum, diese Spekulationen szenisch-spielerisch zu erkunden. In zwei Spielrunden wollen wir szenisch spekulieren: Zunächst in einem „Play for Drama“-Ansatz, bei dem möglichst viel eskalieren und schief gehen soll. Anschließend wollen wir über ein „Play for Win“-Ansatz verproben, wie es besser laufen kann.
Play for Drama
Die Bühne ist eingerichtet: ein Krisenstab und ein Medien-Newsroom sind abgeklebt. Dazu kreiert die Gruppe zunächst drei Szenen: Das Mehrfamilienhaus, die Batteriefabrik und den Stau auf der Autobahn. Das Erdbeben erschüttert Hannover und auch die Gruppen lässt sich durchschütteln. Alle Akteure haben zu wenig Informationen. Der Krisenstab agiert überfordert und nicht nach Protokoll. Es entsteht ein Kompetenzgerangel und Stadt, Region, Land und Bund schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Hilfe wird nicht geschickt und kommt nicht an. Einem populistischen Bürgermeister ist Sichtbarkeit wichtiger als konkretes Handeln. Freiwillige organisieren sich über Telegram-Gruppen und wettern gegen unfähige staatliche Institutionen. Mit dem Stromausfall eskaliert die Lage. Chaos bricht auf der Bühne aus. Geschäfte werden geplündert, Mülltonnen brennen. Alles passiert gleichzeitig, keiner hat mehr einen Überblick. Viele sind überfordert, versuchen sich wegzuducken, oder erstarren. Wenige schaffen es, Führung zu übernehmen. Vor dem Hintergrund ist für eine neue Pandemie mental und auf der Bühne kein Platz mehr. Wir sind voller Eindrücker und lassen sie weg.
In der anschließenden Kurzreflektion zeigte sich eine Spannung zwischen: ein total unrealistisches Szenario vs. viele Elemente erleben wir einzeln bereits. Es fallen zwei Sätze, die in solchen Situationen häufig geäußert werden: “Das war ja nur ein Spiel. In echt ist das ja alles ganz anders.” Aber genau darum geht es ja: Es wird nicht so bleiben wie es bisher war. Und es wird nicht so passieren, wie bisher simuliert und geübt wird.
Play for Win
Die zweite Spielrunde war dann eine Demonstration, wie es “richtig” laufen sollte. Es wurde gezeigt, welche Kraft in der Einhaltung der Protokolle und in der Klarheit von Rollen steckt. Wieviel Erfahrung und Expertise da ist. Leider hat die Gruppe dafür jede Störung und Untiefe aus dem Katastrophen-Szenario genommen. Die Teilnehmenden passten das Szenario so an, wie sie es aus ihren professionellen Erfahrungen kannten und ihnen vertraut und handhabbar war.
In der Reflektion am Schluss der Simulation kommt dann eine weitere wichtige Erkenntnis zum Vorschein: Vielleicht sind es nicht so sehr die Multi-Katastrophen, auf die die Organisationen sich besser vorbereiten müssten, sondern die Gleichzeitigkeit der vielen Krisen und mögliche Kollapse. Denn die Katastrophe ist bald vorbei und alle Helfer*innen können wieder nach Hause gehen. Aber die Krisen dauern viele Monate, teilweise Jahre. Und bei einem Kollaps mögen (Sub-)Systeme sogar gänzlich zusammenbrechen.
Reflektionen: Und was ist eigentlich mit Klimakrise und Hannover 2035?
Wir sind in die Simulation mit dem Anspruch der doppelten Spekulation gestartet: spekulieren bezüglich gleichzeitiger Katastrophen UND Krisen in Hannover. Im Zuge des Spiels sind sowohl die Klimakrise als auch Hannover 2035 komplett in den Hintergrund gerückt. Die Dringlichkeit der Katastrophen hat jeglichen Vorstellungsraum eingenommen. Das ist einerseits bedauerlich. Andererseits ist es auch ein Ergebnis. Aus der Zukunftsforschung ist bekannt: Das Dringliche wird dem Wichtigen vorgezogen. Das Gegenwärtige und Kurzfristige ist aufmerksamkeitsheischender als das Zukünftige und Langfristige. Die Klimakrise löst weitere Katastrophen und Krisen aus und tritt damit in den Hintergrund ihrer Symptome.
Über den Tag hinweg haben wir jedoch so etwas wie einen Schichtkuchen entwickelt. Nur weil man nicht alles gleichzeitig schmeckt bzw. wahrnimmt, heißt es nicht, dass es nicht da war. Nur weil nicht alles in einem Szenario, einem Spiel integriert ist, heißt das nicht, dass die Teilnehmenden nicht wichtige Impulse mitgenommen haben. So erhielten wir im Nachgang der Veranstaltung das Feedback, dass sich Menschen bislang nicht über den Ernst der Klimakrise im Klaren waren und das fortan in ihre Arbeit einfließen lassen werden.
Zentrale Erkenntnisse:
Es braucht mehr Auseinandersetzung mit Krisen und Kollaps um Katastrophenschutz unter neuen Bedingungen zu erproben. Während es laut Teilnehmenden für den Umgang mit (einzelnen) Katastrophen-Ereignissen Protokolle gibt, fehlen diese für langfristige Krisen- und Kollaps-Szenarien. In zukünftigen Formaten sollte der Fokus daher etwas stärker auf die längerfristigen Krisen sowie auf den längerfristigen Zusammenbruch (Kollaps) von Systemen liegen. Vielleicht sind es weniger die (Multi)Katastrophen, denen wir uns widmen sollten, als vor allem die zerrüttenden Krisen. Also die länger und langsamer laufenden Entwicklungen, die die Institutionen und Organisationen in ihrer Handlungsfähigkeit untergraben bzw. einschränken. Wie z.B. die Folgen von Klimaerhitzung, Rechtsruck, etc.
Es braucht mehr organisationsübergreifende Begegnungen und Vernetzung. Direkt am Anfang deutet sich bereits eine zentrale Erkenntnis an: Die relevanten Akteure in Hannover kennen sich kaum, brauchen und wollen mehr organisationsübergreifende Begegnungen und simulative Praxis. Auch in der Abschlussrunde und in diversen Nachgesprächen wird dieser Wunsch immer wieder geäußert werden. Hier würden sich sowohl intensive Simulationen als auch kürzere und regelmäßige Formate wie z.B. quartalsweise, moderierte Treffen anbieten.
Böse Überraschungen brauchen Vorstellungsvermögen & Improvisationsgeschick: DieHerausforderungen der Zukunft werden nicht nur mehr, sondern auch anders als in der Vergangenheit. Es ist z.B. davon auszugehen, dass Extremwetterereignisse sowie klimabedingte Migration zunehmen und Ressourcenverfügbarkeit zurückgeht. Wir wissen nicht, wie Gesellschaft darauf reagieren wird, und wo beispielsweise soziale Spaltung Katastrophenhilfe erschweren. Was bisher geholfen hat, mag bald nicht mehr funktionieren. Daher sehen wir es im Sinne eines rationalen Risikomanagements für wichtig, auch unwahrscheinliche und unerwünschte Szenarien durchzuspielen und den Umgang mit Ungewissheit zu üben. An Spekulation, Simulation und Spiel kann in der Impulsivität ungeahnte Verbindungen deutlich machen neue Ideen aufkommen lassen, die zu blöd oder zu genial sein können, um sie am Schreibtisch zu entwickeln.
Lizensierung
Jörg Jelden und Gerriet Schwen (2024) Creative Commons-Lizenz CC BY 4.0.
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1
IPCC (2021–2023): Sechster IPCC-Sachstandsbericht (AR6). https://www.de-ipcc.de/250.php.
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2
Copernicus Climate Change Service (2024): „Climate Bulletin February 2024“, in: Copernicus / ECMWF [05.03.2024]. https://climate.copernicus.eu/copernicus-february-2024-was-globally-warmest-record-global-sea-surface-temperatures-record-high.
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3
Deutscher Wetterdienst (DWD): Klimaprojektionen für Deutschland. https://www.dwd.de/DE/forschung/klima_umwelt/klimaprojektionen/fuer_deutschland/fuer_deutschland_node.html.
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4
Umweltbundesamt (2019): Monitoringbericht 2019 zur Deutschen Anpassungsstrategie an den Klimawandel. Bericht der Interministeriellen Arbeitsgruppe Anpassungsstrategie der Bundesregierung, Umweltbundesamt: Dessau-Roßlau. https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/1410/publikationen/das_monitoringbericht_2019_barrierefrei.pdf.
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5
Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) (2024): Naturgefahrenreport 2024. Datenservice mit Zahlen, Grafiken und Karten zu Naturgefahrenschäden in Deutschland. https://www.gdv.de/gdv/statistik/datenservice-zum-naturgefahrenreport.
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6
Umweltbundesamt (2024): Auswirkung des Klimawandels auf die Wasserverfügbarkeit - Anpassung an Trockenheit und Dürre in Deutschland (WADKlim). TEXTE 143/2024, Umweltbundesamt: Dessau-Roßlau. https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/11850/publikationen/143_2024_texte_wadklim.pdf.
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7
Oxfam Deutschland (2023): Klima der Ungleichheit. Wie extremer Reichtum weltweit die Klimakrise, Armut und Ungleichheit verschärft. Oxfam Deutschland: Berlin. https://www.oxfam.de/system/files/documents/20231120-oxfam-klima-ungleichheit.pdf.
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8
Mora, Camilo et al. (2017): Global Risk of Deadly Heat, in: Nature Climate Change 7, S. 501–506. https://www.nature.com/articles/nclimate3322.
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9
Siehe Albert, Michael J. (2024): Navigating the Polycrisis: Mapping the Futures of Capitalism and the Earth, Cambridge, MA: The MIT Press und Boyd, Andrew (2023): I Want a Better Catastrophe: Navigating the Climate Crisis with Grief, Hope and Gallows Humor, Gabriola Island: New Society Publishers.
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10
Siehe Buckel, Christoph/Reineck, Uwe/Anderl, Mirja (2021): Praxishandbuch Soziodrama. Theorie, Methoden, Anwendung, Weinheim/Basel: Beltz und Czirak, Adam/Nikoleit, Sophie, Oberkrome, Friederike/Straub, Verena/Walter-Jochum, Robert/Wetzels, Michael (Hrsg.) (2019): Performance zwischen den Zeiten: Reenactments und Preenactments in Kunst und Wissenschaft, Bielefeld: transcript.
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12
BBK (2009–): Risikoanalysen Bund und Länder. https://www.bbk.bund.de/DE/Themen/Risikomanagement/Risikoanalysen-Bund-Laender/risikoanalysen-bund-laender_node.html.
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13
Zum Vergleich: Corona hatte laut Robert Koch Institut eine Sterblichkeitsrate von ca. 6% und keine infektiösen Leichen: Robert Koch Institut (2021): Epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV-2 und COVID-19.
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15
Gaub, Florence (2023): Zukunft. Eine Bedienungsanleitung, München: dtv.