Rezensionen von Lea Bonasera, Daniel Schmitz-Remberg, Etienne Lefebvre, Annette Hohenberger und Leon Herweg
Neue Perspektiven auf das Climate Endgame
Jem Bendell: Breaking Together ↓
Tom Murphy: Energy and Human Ambitions on a Finite Planet ↓
Carolin Emcke: Was wahr ist
Rezension von Lea Bonasera
Im Dezember des vergangenen Jahres wurde ich von Carolin Emcke eingeladen, im Streitraum der Schaubühne Berlin gemeinsam über die Klimakrise und Protest zu sprechen. Es war ein besonders reflektierter Raum, mit tiefgehendem Hinterfragen, offenem Zweifeln, Selbstkritik, Ehrlichkeit und gegenseitigem Respekt – genau die Art von Diskussion, die ich mir häufiger im Umgang mit der Klimakrise wünsche. Kurz darauf erschien Emckes neues Buch, das mich in meiner Forschung zum Widerstand sowie beim Aufbau der neuen sozialen Bewegung „Guter Grund“ weiter inspiriert hat. Diese Inspiration möchte ich nun weitergeben, indem ich unser Gespräch fortsetze – mit Aussagen aus ihrem Buch Was wahr ist: Über Gewalt und Klima.[1]
1. Wahrsprechen
EMCKE: „Wie bei Gewalt im Wendekreis des Krieges kommt es bei der Klimakrise (und es ist ja auch eine Form der Gewalt) darauf an, sie als etwas Gewordenes zu beschreiben, die Zerstörung nicht als naturwüchsig, nicht als unabänderlich zu beschreiben, sondern als etwas, was gemacht wurde, das Anthropozän, etwas, was eine Autorschaft kennt, für das jemand verantwortlich ist, weil es immer auch die Möglichkeit gab, anders zu entscheiden, anders zu handeln, auszusetzen mit der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, mit der Ausschüttung von CO2-Emissionen, mit der Verseuchung der Böden.“
BONASERA: Es ist wichtig, die Ursachen und Auswirkungen der Klimakrise klar zu benennen. Trotzdem ist mir die Klimakrise immer noch zu klein gedacht, mit einem übermäßigen Fokus auf CO2. Wir sollten die planetaren Grenzen, die über CO2 hinausgehen, sowie die fundamentalen Ungleichheiten im Agrar- und Ernährungssystem berücksichtigen Ein ganzheitlicher Ansatz und der Mut zur Komplexität sind erforderlich. Außerdem stehe ich apokalyptischen Erzählung allein ambivalent gegenüber (siehe nächster Punkt).
2. Vorwärts
EMCKE: „Es ist das Denken nach vorwärts, ins Noch-Nicht, das im Angesicht der Klimakrise dringend gebraucht wird. Aus verschiedenen Gründen: einerseits, weil es eine Vorstellung dessen braucht, was möglich sein kann, was wahr sein könnte, was unser Handeln tatsächlich ausmachen kann, um aus dem Zustand der gedankenreichen Tatenarmut herauszufinden. Und andererseits, weil es das Noch nicht braucht als Gegenbild zur Gegenwart, als Instrument der Kritik. Wer das berechnet, was sein könnte, zeigt damit mindestens auch, was nicht sein müsste, was anders sein könnte.“[2]
BONASERA: Ich stimme hier zu, dass neben dem Wahrsprechen auch das Vorwärtsdenken fehlt. Welche Visionen haben wir? Was sind die Alternativen? Eine Studie[3] zu Klimaaktivismus und psychischer Gesundheit zeigt, dass frühere Generationen durch ihr Engagement gestärkt wurden, während heute viele junge Klimaprotestierende, ausgebrannt sind. Bedrohungen haben Gesellschaften schon immer begleitet, doch die Art und Weise, wie junge Menschen heute darauf reagieren – oft durch virtuelle Interaktionen – beeinflusst sie anders als frühere Generationen, deren Engagement meist in der realen Welt stattfand. Diese besorgniserregende Entwicklung sehe ich auch in meinem Umfeld: Wer sich ausschließlich mit dystopischen Szenarien beschäftigt, insbesondere online, verliert oft an Kraft. Ehrlichkeit ist wichtig, aber sie muss von Visionen begleitet werden. Beide Aspekte bedingen einander. Das Konzept des "konstruktiven Widerstands"[4] halte ich daher für besonders vielversprechend. Es geht darum, nicht nur Missstände zu bekämpfen, sondern Widerstand aktiv mit konstruktivem Handeln zu verbinden – auch wenn die Frage bleibt, wie dieser Ansatz die oft negativ geprägte Medienlandschaft durchdringen kann.
3. Diskurs
EMCKE: „Ich halte ‚Aktivismus‘ inzwischen für einen Kampfbegriff in einem Milieu, das versucht, bestimmte journalistische Institutionen als solche oder bestimmte Diskurse mutwillig zu entstellen, um alle, die sich für strikte Analyse uns Aufklärung einsetzten, zu diskreditieren. Journalismus heißt zunächst, sich der Recherche, der Kritik, der Zeugenschaft verpflichtet zu fühlen, es heißt, nach Belegen, nach Quellen, nach Gründen zu suchen. Aber auch im Journalismus gibt es normative Prinzipien, an denen sich die eigene Arbeit orientiert: das Grundgesetz, Menschen- und Bürgerrechte, die internationalen Konventionen, das Strafgesetzbuch übrigens auch. Ich bin nicht neutral den Menschenrechten gegenüber. Wenn das dann von außen als ‚Aktivismus‘ bezeichnet wird, dann ist das reines Kampagnentum.“
BONASERA: Diese Zeilen haben mich berührt. Ich bin überzeugt, dass Journalist*innen eine unverzichtbare Rolle im Kampf um planetarer Grenzen und im Umgang mit denjenigen spielen, die sich für diese einsetzen. In der Debatte über die Trennlinie zwischen Journalismus und Protest sehe ich jedoch auch eine tief verwurzelte Angst: das Dilemma, sich nicht offen auf die Seite derer stellen zu können, die sich für diese Anliegen engagieren, um die eigene Objektivität und Neutralität nicht zu gefährden. Emcke macht jedoch deutlich, dass es hierbei weniger um Objektivität geht, sondern um den Umgang mit dem heftigen Widerstand, der Journalist*innen entgegenschlägt. In der Widerstandsforschung nennt man dies auch „schlaue Unterdrückung" – die subtile Diskreditierung statt offener Repression. Wie Emcke sagt: „Wer die Wahrheit erzählen will, muss wissen, dass es auch später gilt, dafür einzustehen – mit der eigenen Person, dem eigenen Körper, dem eigenen Text.“ Genau aus diesem Grund schätze ich es sehr, dass hier in dieser Publikation ein Diskursraum über „Klima, Kollaps, Kommunikation“ geschaffen wurde so sehr und danke allen Beteiligten für ihren Mut und ihr Engagement.
Jem Bendell: Breaking Together
Rezension von Daniel Schmitz-Remberg
Am Abend nach einem intensiven Tag bei THE SHIFT, der ersten Corporate Climate Adaptation Konferenz, saßen Jem Bendell und ich in einer entspannten Runde zusammen. In lockerer Atmosphäre schaute er mich mit diesem nachdenklichen, aber forschenden Blick an und fragte: „Wie sieht dein Geschäftsmodell eigentlich in Zeiten des Kollapses aus?“ Diese Frage traf mich unvermittelt. Zwischen all den Debatten über Klimawissenschaft, Politik und wirtschaftlichen Anpassungsstrategien hatte ich mir diese fundamentale Frage – die alles auf den Prüfstand stellt – schlicht nie gestellt. Genau hier liegt die Wucht seines Buches Breaking Together: A freedom-loving Response to Collapse:[5] Es zwingt uns, den gewohnten Denkraum zu verlassen und uns dem Unausweichlichen zu stellen.
Jem Bendell: Vom Nachhaltigkeitsvordenker zum Doomster
Jem Bendell ist kein Unbekannter in der Welt der Nachhaltigkeit. Einst hat er als Berater globaler Institutionen Karriere gemacht, später war er Professor für Nachhaltigkeit. Mit seinem Paper Deep Adaptation[6] löste er eine weltweite Debatte über die Notwendigkeit radikaler Anpassung an die Klimakrise aus. Lange drehte sich Bendells Arbeit um die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft hin zu einer nachhaltigeren Zukunft. Doch irgendwann änderte sich seine Perspektive.
Bendell erkannte, dass die erhoffte Transformation zu spät kommen würde – und dass sie den bereits in Gang gesetzten Kollaps globaler Systeme nicht aufhalten würde. Mit Breaking Together hat er ein Buch vorgelegt, das nicht mehr versucht, Lösungen für das „Vermeiden“ des Zusammenbruchs zu finden, sondern Antworten für ein Leben mit diesem Bewusstsein zu formulieren. Dieses Buch ist nicht nur eine Analyse, sondern auch ein radikaler Weckruf – unbequem, provokativ und mutig.
Teil 1: Abrechnung mit den „Fake Green Fairytales“
Der erste Teil des Buches ist eine schonungslose Abrechnung mit der globalen Nachhaltigkeitsagenda. Bendell nennt sie „Fake Green Fairytales“ – grüne Märchen, die uns glauben machen sollen, dass technologische und wirtschaftliche Lösungen unsere Lebensweise retten könnten. Doch hinter diesen Geschichten, so Bendell, lauert die systemische Unfähigkeit unserer Gesellschaften, den ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen wirklich zu begegnen.
Bendell argumentiert, dass die meisten Ansätze der „grünen Transformation“ auf falschen Prämissen beruhen. Technologien wie erneuerbare Energien oder die Kreislaufwirtschaft mögen positiv klingen, doch sie lösen die strukturellen Probleme nicht. Stattdessen perpetuieren sie ein auf Wachstum basiertes Wirtschaftssystem, das die planetaren Grenzen längst gesprengt hat. Seine Kritik ist prägnant:
„Wir haben uns so sehr an die Idee des Fortschritts geklammert, dass wir nicht sehen wollen, dass dieser Fortschritt uns an den Rand der Zerstörung geführt hat.“ – Jem Bendell[5]
Besonders hart geht Bendell mit der Nachhaltigkeitsbewegung ins Gericht. Er sieht in ihr oft einen gut gemeinten, aber letztlich wirkungslosen Versuch, die Realität des Kollapses zu verdrängen. Viele Akteure, so Bendell, schüren Hoffnung, wo es keine mehr geben kann, und lenken damit von den wirklich radikalen Schritten ab, die nötig wären.
Die Argumentation in diesem Teil ist kraftvoll, doch sie hat Schwächen. Bendell stützt sich auf eine Vielzahl interdisziplinärer Quellen, priorisiert jedoch Studien, die seine These des unausweichlichen Kollapses untermauern. Kritische Perspektiven, die möglicherweise ein differenzierteres Bild zeichnen könnten, bleiben oft im Hintergrund. Das macht seine Analyse stellenweise einseitig – aber nicht weniger eindringlich.
Teil 2: Antworten auf den Kollaps
Nachdem Bendell im ersten Teil das Fundament vieler Hoffnungen zerstört hat, wendet er sich im zweiten Teil der Frage zu, wie wir mit dem Wissen um den Kollaps leben können. Hier nimmt das Buch eine fast philosophische Wendung: Es geht nicht mehr um Lösungen im klassischen Sinne, sondern um die Neugestaltung unseres Lebens in einer Welt, die sich radikal verändert.
Bendell setzt auf Gemeinschaften als Kern von Resilienz. Er beschreibt, wie lokale Netzwerke von Menschen – nicht Staaten oder Unternehmen – in der Lage sein könnten, die Auswirkungen des Kollapses abzufedern. Diese Gemeinschaften sollen nicht nur ein Auffangnetz bieten, sondern auch Raum schaffen, um neue Werte und Lebensweisen zu entwickeln.
„Das Leben wird nicht einfacher, aber es wird echter, wenn wir lernen, uns aufeinander zu verlassen, statt auf die Illusion der Kontrolle durch Systeme.“ – Jem Bendell[5]
Ein zentrales Konzept dieses Teils ist die Idee des „Happy Doomsters“ – Menschen, die das Unvermeidbare akzeptieren, ohne in Verzweiflung zu versinken. Sie begreifen den Kollaps nicht als Ende, sondern als Neuanfang: eine Chance, Sinn und Kreativität inmitten des Zerfalls zu finden.
„Ein Happy Doomster zu sein bedeutet, mit der Endlichkeit zu leben und in ihr die Möglichkeit für neue Anfänge zu entdecken.“
Breaking Together bei THE SHIFT
Bei THE SHIFT brachte Jem Bendell genau diese kontroversen Thesen in den Raum – und sie wirkten. Eine Teilnehmerin aus der Nachhaltigkeitsbranche brachte es auf den Punkt: „Jem ist gefährlich für meinen Job.” Ihre Reaktion zeigt, wie tief seine Analyse die Grundfesten der klassischen Nachhaltigkeitsarbeit erschüttert. Doch gerade diese Provokation war es, die die Diskussion bereicherte. Die Teilnehmenden schätzten es, dass THE SHIFT Raum für diese unbequemen Wahrheiten bot.
Am Ende des Tages war klar: Bendells Buch ist nicht nur ein Werk der Analyse, sondern ein Aufruf zur radikalen Auseinandersetzung – mit uns selbst, mit unseren Systemen und mit der Welt, wie sie ist.
Zum Abschluss der THE SHIFT Konferenz lud ich, inspiriert vom Buch zu einer ‘Doomsters Club Night’, um die schwierigen Themen des Tages Revue passieren zu lassen. Ich reflektierte erneut über Jems Frage: „Wie sieht dein Geschäftsmodell in Zeiten des Kollapses aus?“ Eine abschließende Antwort habe ich noch nicht. Aber ich weiß, dass ich mit THE SHIFT einen wichtigen Schritt gegangen bin. Diese Plattform schafft eine Community, die nicht nur diskutiert, sondern konkret wird: Was bedeutet Anpassung an den Klimawandel wirklich? Wie können Unternehmen und Menschen sinnvoll handeln, wenn die alten Regeln nicht mehr gelten?
Fazit: Ein radikaler Weckruf
Breaking Together ist mehr als ein Buch. Es ist eine Provokation, eine Herausforderung und ein Werkzeug, um sich der Realität des globalen Kollapses zu stellen. Bendell zerstört die falschen Gewissheiten, an die sich viele klammern, und eröffnet gleichzeitig eine Perspektive für ein Leben in radikaler Ehrlichkeit. Es ist keine leichte Lektüre, aber eine, die bleibt – und die den Raum schafft für das, was Bendell als unseren wichtigsten Schritt beschreibt: das bewusste Gestalten in einer zerbrechenden Welt.
Tom Murphy: Energy and Human Ambitions on a Finite Planet
Rezension von Etienne Lefebvre
Im Jahr 2020, mitten während des COVID-Lockdowns, stieß ich auf das größte Online-Forum für Diskussionen über den Zusammenbruch der Zivilisation. Anfangs tat ich die Inhalte im Subreddit r/collapse ab – sie schienen mir übermäßig pessimistisch, ein typischer „Doomerismus“, den ich nicht ernst nehmen wollte. Und doch verbrachte ich immer mehr Zeit in diesem Forum. Ich merkte, dass ich insgeheim nach der Bestätigung suchte, dass die Möglichkeit eines Zusammenbruchs übertrieben sei. Aber je mehr ich las, desto deutlicher wurde mir, dass eine beachtliche Zahl von Expert*innen aus unterschiedlichen Bereichen wie Finanzen, Energie, Klimawissenschaft und Ökologie seit Jahren vor einem Zusammenbruch warnt. Besonders beeindruckend fand ich dabei, dass die Argumente dieser Expert*innen auf radikaler Ehrlichkeit basierten – auf einer Denkweise, die das Wunschdenken des Ökomodernismus einmal beiseitelegt und durch systematische wissenschaftliche Analysen ersetzt. Dr. Tom Murphy kann als einer dieser Experten gesehen werden, die genau diese radikale wissenschaftliche Ehrlichkeit verkörpern.
Tom Murphy, ein renommierter Astrophysiker von der University of California, San Diego, erregte erstmals 2011 mit seinem Blog Do the Math[7] Aufmerksamkeit. Mit kreativen und quantitativen Analysen untersuchte er die Auswirkungen von Energie, Klima und Gesellschaft auf einem endlichen Planeten. Ein Jahrzehnt später weitete er diese Ideen in seinem Buch Energy and Human Ambitions on a Finite Planet: Assessing and Adapting to Planetary Limits[8] aus. Dieses 465-seitige Lehrbuch geht über seinen Blog hinaus und bietet einen Einblick in die Grenzen des Wachstums, der selten so tiefgreifend und verständlich formuliert ist. Das Buch fordert uns als Leser*innen heraus, unser Wissen auf einer soliden wissenschaftlichen Grundlage aufzubauen. Murphys Betrachtung des Zusammenbruchs ist weder alarmistisch noch beschönigend, sondern basiert auf einem nüchternen Verständnis von Physik, Mathematik und unserer Abhängigkeit von begrenzten Energiequellen.
Murphy beginnt sein Buch direkt mit der Mathematik exponentieller Beziehungen. In gewohnter Do the Math-Manier führt er uns vor Augen, wie viel Energie wir produzieren müssten, wenn wir unsere historische jährliche Wachstumsrate von 2,9 % beibehalten wollten. Schnell führen die Berechnungen zu Szenarien wie der kompletten Zupflasterung des Planeten mit Solarmodulen oder gar der Konstruktion von Dyson-Sphären, die die Energie ganzer Galaxien einfangen. Murphys Punkt ist klar: Ein solches exponentielles Wachstum in der Energieproduktion ist unmöglich aufrechtzuerhalten, und wir sollten nicht erwarten, dass die Energieproduktion in Zukunft den gleichen Weg nimmt wie in den letzten 200 Jahren.
Doch wie könnte eine Energiezukunft tatsächlich aussehen?
Ein Großteil des Buches widmet sich dieser Frage, indem Murphy die Energiequellen, auf die wir derzeit angewiesen sind – von fossilen Brennstoffen bis hin zu Erneuerbaren Energien – sorgfältig analysiert und deren Potenzial bewertet, zu zukünftigem Wachstum beizutragen. Dabei scheut er sich nicht, die außergewöhnlichen Eigenschaften fossiler Brennstoffe hervorzuheben, wie ihre hohe Energiedichte, den hohen Energieertrag und die fast perfekte Energiespeicherung. Besonders wichtig: Die immense Herausforderung, jetzt einen Ersatz für die vielfältigen Anwendungen der fossilen Energieträger in unserer industriellen Konsumgesellschaft zu finden. Gleichzeitig erkennt Murphy die Chancen der Möglichkeit, dass Wind- und Solarenergie eine viel größere Rolle in unserem globalen Energiesystem spielen könnten. Dennoch warnt er davor, dass es enorme Investitionen erfordern würde, wenn wir weiterhin jährlich so viel mehr Energie verbrauchen wie im derzeitigen Trend. Ein derartiger Shift in Investments könnte erhebliche politische und gesellschaftliche Folgen nach sich ziehen und die Stabilität von Regierungssystemen gefährden.
Neben den technischen Aspekten beleuchtet Murphy auch die menschlichen und systemischen Hindernisse für effektive Veränderungen. Er untersucht psychologische Hürden, wie unseren Glauben an ständigen Fortschritt und die Unwilligkeit, die Möglichkeit eines Niedergangs zu akzeptieren, die es Gesellschaften schwer machen, entschlossen zu handeln. Dieser Teil des Buches berührte mich besonders, da er die Frustration widerspiegelte, die ich beim ersten Besuch des r/collapse-Forums selbst empfand: eine weit verbreitete Verleugnung der Ernsthaftigkeit unserer Lage, selbst wenn die Beweise klar auf dem Tisch liegen.
In einer Welt, in der Diskussionen über Energie und Nachhaltigkeit oft zwischen blindem Optimismus und lähmender Angst hin und her schwanken, ist Murphys Buch ein Leuchtturm.
Murphys Art, die Schwere des Kollapsrisikos zu kommunizieren, ist gleichermaßen ehrlich und regt zum Nachdenken an. Er unterscheidet zwischen „Problem“ und „Predicament“: Probleme implizieren Lösungen, doch Murphy argumentiert, dass wir vor einer Zwickmühle stehen – einem komplexen, miteinander verflochtenen Set an Herausforderungen, die nicht einfach durch technische Lösungen „behoben“ werden können. Dies zwingt uns, uns der Realität zu stellen: Es gibt keine einfachen Antworten und unser Streben nach schnellen Lösungen verschlimmert oft alles nur. Stattdessen schlägt Murphy vor, unser Leben so anzupassen, dass es mit den endlichen Ressourcen des Planeten im Einklang steht, und erkennt an, dass einige Wege nach vorn tiefgreifende Veränderungen in unserem Lebensstil und unserem Konsumverhalten erfordern.
Energy and Human Ambitions on a Finite Planet ist mehr als nur ein Buch – es ist eine unverzichtbare Ressource für alle, die die Tragweite unserer Herausforderungen wirklich verstehen wollen. Es ist ein Aufruf zum Handeln für diejenigen, die erkennen, dass der Weg, auf dem wir uns befinden, nicht nachhaltig ist und dass Wunschdenken nicht ausreicht. In einer Welt, in der Diskussionen über Energie und Nachhaltigkeit oft zwischen blindem Optimismus und lähmender Angst hin und her schwanken, ist Murphys Buch ein Leuchtturm. Dieses Buch ist ein wesentlicher Beitrag zur Debatte über unsere Zukunft und fordert uns auf, unsere Annahmen zu überdenken und uns an die Realitäten einer endlichen Welt anzupassen.
Thomas Metzinger: Bewusstseinskultur
Rezension von Annette Hohenberger
Dass ein Philosoph sich zur Klimakrise äußert, geschieht eher selten.[9] Hier hat ein namhafter deutscher Philosoph des Geistes – Thomas Metzinger – im Ringen um eine philosophische Haltung im Angesicht der planetaren Krise ein ganzes Buch geschrieben.[10] Dabei verbindet er mühelos Themen, die vordergründig wenig gemeinsam zu haben scheinen – Klimawandel, intellektuelle Redlichkeit, östliche Meditation – unter dem überwölbenden Thema der „Bewusstseinskultur”. Doch der Reihe nach.
Thomas Metzinger startet mit der nüchternen Diagnose, dass es zwar physikalisch möglich sei, die Klimakrise noch abzuwenden, jedoch psychologisch unrealistisch. Unser Zweckoptimismus heuchelt uns vor, in der Krise noch selbstwirksam zu sein, lenkt uns aber nur ab von der notwendigen, jedoch schmerzlichen Erkenntnis, dass es (möglicherweise schon) zu spät sei und wir kollektiv versagt haben. „Wir”, das sind nicht die Milliarden Menschen im globalen Süden, sondern wir hier im globalen Norden. Was jetzt hilft, ist allein das Kultivieren einer intellektuellen Haltung, die uns gleichzeitig unser individuelles wie kollektives Versagen ertragen lässt und uns einen praktischen Weg heraus aus der Krise bzw. ein Leben in der Krise aufzeigt – mithilfe der (östlichen) Meditation.
Denn Thomas Metzinger ist nicht nur akademischer Philosoph, sondern praktiziert auch seit vielen Jahrzehnten Meditation. Durch inneres Gewahrwerden und Klarheit ist es allen Menschen möglich, nicht-egoische, subjektlose Zustände zu erreichen, in denen sich die Subjekt-Objekt-Beziehung auflöst zugunsten reiner Anschauung. Metzinger nennt es „Bewusstseins-Bewusstsein”[11]. Wer nun glaubt, solche Zustände seien für ihn oder sie doch gar nicht erreichbar, irrt: Sie sind in uns angelegt und kommen spontan vor – wir (im „Westen“) haben nur keine Begrifflichkeit dafür und erkennen sie daher nicht.
Warum sollten wir uns bemühen, solche Zustände zu erreichen?
Nach Metzinger ist die Position der radikalen Subjektlosigkeit der einzige intellektuelle Rückzugsort für uns Versagende, in der wir unsere Würde dennoch bewahren können, und gleichzeitig ein Aufbruchsort für eine empathische Haltung gegenüber unseren Mitmenschen und Mitkreaturen auf diesem Planeten. Statt unserer hektischen Aufmerksamkeitsökonomie verheißt sie kulturelle Erneuerung durch gemeinwohl-orientierte Formen des Erlebens, Erwerb von Wissen und nicht-begrifflicher Einsicht – in voller geistiger Autonomie. So können wir der planetaren Krise ins Auge schauen und sagen: „Ich nehme die Herausforderung an”.[12] Im Moment des Scheiterns liegt eine Chance, denn in ihm treten wir in (schmerzhaften) Kontakt mit der Wirklichkeit. [13] Eine solche Meditationspraxis – z.B. Vipassana, Yoga oder Tai-Chi – ist spirituell, aber säkular – niemand braucht an irgendetwas zu glauben. Sie könnte schon in der Schule in Form eines „kontemplativen Werkzeugkastens”[14] eingeübt und schrittweise als öffentliches Gut (nicht als Ware) in die gesellschaftliche Praxis eingehen. Dann würden wir auch erkennen, was unserer planetaren Wirtschaft gut täte, so Metzinger: ein “grünes Schrumpfen in den reichen Ländern und ein sanftes grünes Wachstum in den armen Ländern, bei aktiver Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten”.[15] Bewusstseinskultur führt zu nachhaltigem Verhalten und fördert gleichzeitig geistiges Wachstum.
Im Moment des Scheiterns liegt eine Chance, denn in ihm treten wir in (schmerzhaften) Kontakt mit der Wirklichkeit.
Einer der seltenen Momente, in denen Thomas Metzinger sich humorvoll zeigt, ist sein Vorschlag: „nicht die Landung auf dem Mars, sondern die Landung im reinen Bewusstsein” [16] wäre erstrebenswert. So könnte „Erleuchtung” in unserer Zeit auch definiert werden als “freie Art von Erkenntnis”,[17] im Sinne einer „Aufklärung 2.0”. Damit Bewusstseinskultur nicht dogmatisch wird, fordert er eine ständige aufmerksame philosophische Skepsis, die die Erkenntnis der Wahrheit immer wieder hinterfragt. Denn diese intellektuellen Tugenden haben Wissenschaft und Spiritualität gemeinsam: den Willen zur Wahrheit und absolute Ehrlichkeit.[18] Am Ende gibt uns Thomas Metzinger noch einen guten Rat mit auf den Weg: die Offenheit, seine Bewusstseinskultur als „kulturelle Plattform” zu nutzen und davon ausgehend neue Formen des würdevollen Lebens zu entwerfen.[19]
Man mag sich fragen, ob das nicht alles sehr abgehoben ist, mit der Bewusstseinskultur. Wer von uns übt sich denn schon in tiefer Meditation und löst dabei das eigene Selbst auf? Andererseits: einen Bewusstseinswandel brauchen wir allemal in dieser Krise – egal, wie sie ausgeht: dystopisch oder utopisch. Climate-Endgame-Szenarien, die Metzinger deutlich vor Augen hat, könnten uns die nötige dialektische Spannkraft geben, zu einer neuen, nachhaltigen Synthese unterschiedlicher geistiger Traditionen und Praktiken auf unserem Planeten zu gelangen. Ich lese Metzingers Angebot als eine Inspiration, sich aus dem Werkzeugkasten der Bewusstseinskultur an Tugenden, Methoden und Zielen für unsere jeweilige Lebenspraxis zu bedienen. Die Verbindung von Bewusstsein und Klimakrise ist so überzeugend vorgebracht, wie ich es bisher aus der Feder eines akademischen Philosophen noch nicht gelesen habe. Ich glaube, solche neuen, radikalen Impulse brauchen wir. Meditation bedeutet dabei nicht, dass wir nur die Hände in den Schoß legen und uns in uns versenken. Wir müssen auch die Faust hochrecken gegen die „Feinde der Menschheit“[20], die Metzinger klar im Visier hat: die fossile Industrie und Politik, ihre Lobbyist*innen und Profiteur*innen. Alle müssen Verantwortung bei sich selbst suchen – aber auch die zur Rechenschaft ziehen, die die Klimakrise maßgeblich befeuern und den Planeten ausplündern, „nur für ‘nen Batzen Geld“, wie es die Fridays-for-Future-Demonstrierenden skandierten.
Vanessa Machado de Oliveira: Hospicing Modernity
Rezension von Leon Herweg
Als ich ungefähr 14 Jahre alt war, genoss ich jede Art von Film. Ich liebte jede sich noch so wiederholende Romcom und jeder noch so platte, mit zu vielen Explosionen und Autoszenen gefüllte Actionfilm war aufregend. Bis zu dem Moment, als wir in der Schule lernten, Filme zu analysieren, Kameraführungen zu deuten und Zeichen zu lesen, die das Ende ankündigen. Danach konnte ich keinen Film mehr schauen, ohne dabei mitzudenken und zu erkennen, wie flach der Großteil ist, wie vorhersehbar und monoton.
Hospicing Modernity zu lesen, ist wie Filmanalyse lernen. Nur, dass danach nicht dein Filmkonsum für immer verändert ist, sondern dein aktuelles Existieren in einer Konsumgesellschaft desillusioniert wird und du lernst Zeichen zu lesen, die das Ende ankündigen. Das Ende der Welt-so-wie-wir-sie-kennen. Dein Blick auf die dir präsentierten Lösungen zu unseren globalen Krisen wird kritischer und komplexer. Du beginnst dich zu fragen, wer „Wir“ sind, die diesen „ Fortschritt“ wollen; wessen Definition von „Fortschritt“ „Wir” eigentlich in der Moderne verfolgen und auf wessen Kosten; auf wessen Kosten „Wir“ unsere Bequemlichkeiten schon immer gelebt haben. So lernst du, den bitteren Beigeschmack unseres Luxus, unserer Kultur und unseres gängigen Alltags herauszufiltern und ihn von den perfiden Geschmacksverstärkern der westlichen Normalität zu unterscheiden.
Hospicing Modernity ist ein unangenehmes, herausforderndes und absolut notwendiges Buch.
Unangenehm und erfrischend ungefiltert präsentiert es dir Realitäten, ohne groß um den heißen Brei herumzureden. Dabei lässt das Buch dich jedoch nicht fallen, sondern bietet Methoden und Übungen, um die komplexen und inkohärenten Gefühle und Gedanken – die beim Lesen aufkommen – besser zu navigieren. Durch das bewusste Navigieren erweiterst du deine Kapazitäten, um zu den großen Krisen der Welt zu schauen, ohne dabei in eine Handlungsunfähigkeit zu rutschen oder in einer Spirale von Schuld und Scham zu versinken.
Herausfordernd, da es nicht wie viele Bücher konkrete Lösung bereitstellt, sondern uns auffordert, in der Unannehmlichkeit des Nicht-Wissens zu verweilen. Es fordert uns auf, uns demütig dem Sterben der Welt-so-wie-wir-sie-kennen zuzuwenden und ihre letzten Weisheiten zu hören, bevor wir Geburtshilfe für eine neue Welt geben können. Denn ohne Abschied vom Alten wird jede neue Welt von der gleichen Logik durchdrungen sein und damit inhärent nicht nachhaltig sowie gewaltvoll.
Absolut notwendig, da es unsere globalen Krisen nicht auf CO2 oder technische „ wird schon noch erfunden werden“ oder “wird bald einen Durchbruch haben” Lösungen reduziert, sondern zeigt, wie unsere westliche hegemoniale Wissens- und Seinskultur auf der kontinuierlichen Ausbeutung und Enteignung des sogenannten „globalen Südens“ beruht und sie ohne diese Gewalt nicht bestehen kann und kollabieren wird.
Für mich, als verzweifelten Energietechnik-Studenten war Hospicing Modernity erleichternd. Endlich ein Buch, das die Intersektionalität aufzeigt, die meist unter den Tisch gekehrt wird und die Illusion zerfleddert, dass unser westlicher Lebensstandard für die ganze Welt möglich ist. Endlich ein Buch, das anschlussfähig genug ist, die breite Masse anzuregen und einen (bedauerlicherweise)-notwendigen akademischen Hintergrund besitzt, damit es ernst genug genommen werden kann. Endlich ein Buch, das Spiritualität als Teil des Lebens sieht, aber nicht bevormundet. Endlich ein Buch, das schwer zu ertragen, aber humorvoll ist; innere Arbeit verfolgt, aber auch Handlungsfähigkeit fördert.
Eine gute Mischung aus realem Fatalismus, Naturverbundenheit, Poesie und Geschichten. Jetzt stelle ich mir immer wieder neu die Frage: Welche Geschichten müssen wir erzählen, um neue Welten entstehen zu lassen?
Lizensierung
Lea Bonasera, Daniel Schmitz-Remberg, Etienne Lefebvre, Annette Hohenberger und Leon Herweg (2024) Creative Commons-Lizenz CC BY 4.0.
-
1
Emcke, Carolin (2024): Was wahr ist. Über Gewalt und Klima, hrsg. von Christian Klein und Matías Martínez (Wuppertaler Poetikdozentur für faktuales Erzählen), Göttingen: Wallstein Verlag.
-
2
Emcke, Carolin (2024): Was wahr ist. Über Gewalt und Klima, S.76.
-
3
Haidt, Jonathan (2024): The Anxious Generation: How the Great Rewiring of Childhood Is Causing an Epidemic of Mental Illness, UK: Allen Lane.
-
4
Sørensen, Majken Jul, Stellan Vinthagen und Jørgen Johansen (2023): Constructive Resistance. Resisting Justice by Creating Solutions, Lanham/Boulder/New York/London: Rowman & Littlefield.
-
5
Bendell, Jem (2023): Breaking Together. A freedom-loving response to collapse, Bristol: Good Works. Kostenloses E-Book zum Download: https://jembendell.com/2023/07/10/breaking-together-for-free-and-my-launch-speech/
-
6
Bendell, Jem (2018): Deep adaptation: a map for navigating climate tragedy. Institute for Leadership and Sustainability (IFLAS) Occasional Papers Volume 2. University of Cumbria, Ambleside, UK. (Unpublished) – verfügbar online unter http://www.lifeworth.com/deepadaptation.pdf
-
7
Murphy, Tom (2011–): Do the Math. Using Physics and Estimation to Assess Energy, Growth, Options. https://dothemath.ucsd.edu/
-
8
Murphy, Tom (2021): Energy and Human Ambitions on a Finite Planet: Assessing and Adapting to Planetary Limits, Minneapolis, MN: Open Textbook Library.
-
9
Ausnahmen bestätigen die Regel: In ihrem Artikel Das Problem mit der Hoffnung schreibt Philosophin Ana Honnacker darüber, warum die Umweltbewegung den Glauben an das Ende braucht.
-
10
Metzinger, Thomas (2023): Bewusstseinskultur – Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise. Berlin, Berlin Verlag.
-
11
ibid. S.38
-
12
ibid. S.70
-
13
ibid. S. 158
-
14
ibid. S. 81
-
15
ibid. S. 85
-
16
ibid. S.97
-
17
ibid. S.154
-
18
ibid. S.160f.
-
19
ibid. S.182
-
20
ibid. S.42
-
21
Machado de Oliveira, Vanessa (2021): Hospicing Modernity. Facing Humanity’s Wrongs and the Implications for Social Activism, Berkeley, CA: North Atlantic Books.