Blackout Poetry von Dirk Bathen
Schwarzmalerei
Wer einen Text produziert, möchte etwas festhalten, ein Argument, eine Meinung, eine Geschichte. Wer Gedanken oder Gefühle in einem Text festhält, möchte andere inspirieren, unterhalten, oder aufrütteln. Wer einen Text schreibt, reiht Wörter aneinander, die einen Sinnzusammenhang ergeben. Das ist das Schöne an Wörtern: erst im Zusammenspiel mit anderen Wörtern entstehen Kontext und Sinn.
Diesen ursprünglichen Sinn zu dekonstruieren, Wörter aus alten Zusammenhängen herauszulösen und in neue Beziehungen zueinander zu setzen, das ist das Ziel von „Blackout Poetry“. Hier entstehen aus alten Zeitungs-Artikeln oder Buchseiten neue Satzminiaturen. Einzelne Wörter oder Textstellen werden durch das Wegstreichen vieler Wörter neu miteinander verbunden. Das bislang Unbekannte oder nicht Gesehene wird in ein neues Licht gerückt. Erhellung durch Verdunkelung. Alte Texte werden recycelt, die Wörter bekommen ein Kontext‑Update.
Es muss so um 2011 herum gewesen sein, als ich das Schwarzmalen für mich entdeckt habe, damals inspiriert von Austin Kleons „Newspaper Blackout Poetry“ und Tom Phillips‘ beeindruckendem „Humument“: ein alter, viktorianischer Roman, in dem der Künstler über viele Jahre jede einzelne Seite durch Übermalen und Collagieren verändert hat. In einem TED-Talk hat Austin Kleon einmal sinngemäß gesagt: „Ich wollte etwas schreiben, aber fand nicht die richtigen Worte. Und dann fiel mein Blick auf einen Stapel Zeitungen im Altpapier und ich dachte: Da sind tausende von Wörtern, also könnte ich ja ein paar davon klauen.“ So ging das bei mir auch los und es gibt Tage, da zwinge ich mich regelrecht, einen Artikel „richtig“ und sinnentnehmend zu lesen und nicht nur nach einzelnen Wörtern und Wort-Verbindungen Ausschau zu halten.
Um eine Textverdunkelung zu machen, braucht es also nicht mehr als einen Text, ein offenes Auge für Wortverbindungen und einen Stift, dessen Farbe sich deckend über die Altwörter legt. Meistens ist der schwarz. Der Begriff „Blackout“ ist ja nicht unbedingt positiv konnotiert, und wenn ich im Zusammenhang mit dieser Technik von „ausschwärzen“ oder „schwarzmalen“ spreche, dann ist das nur die halbe Wahrheit. Denn eine Buchseite hat genügend Weißraum, der gar nicht schwarz werden muss, sondern weiß bleiben oder sehr bunt und farbenfroh werden kann. Und dann ist da auch noch die Botschaft selbst: der Satz, der aus den Wörtern entsteht, die nicht geschwärzt sind. Auch hier habe ich jedes Mal die Wahl, wie bunt oder schwarz, wie motivierend oder pessimistisch die Botschaft sein soll. Manchmal ist es genau dieser Kontrast, den ich spannend finde: farbenfrohes Neon trifft auf nicht ganz so helle Inhalte. Oder eine komplett geschwärzte Seite mit einem aufmunternden Spruch.
Angefangen habe ich mit Artikeln aus Zeitungen und Magazinen, mittlerweile arbeite ich fast ausschließlich mit Seiten aus alten Büchern. Das Papier hat eine ganz andere Haptik, und ich mag die Beschränkung des Formats auf eine handliche DIN-A5-Seitengröße. Jede Buchseite ist limitiert auf 200 bis 300 Wörter. Es gilt mit dem zu arbeiten, was da ist. Dabei finde ich nicht auf jeder Seite etwas, das sich zu einem neuen Satz kombinieren lässt. Mal fehlt ein Verb, mal steht ein Wort in der „falschen“ Zeitform, mal gibt es nur einen Singular, wo ich gerne einen Plural hätte … Wie im echten Leben: Oft genug fehlt etwas. Darüber kann ich jammern und zerknittert die Buchseite wegschmeißen – oder ich versuche aus dem, was da ist, etwas zu machen. Das gelingt nicht immer, aber mir ist es wichtig, diese Haltung zu bewahren: zu versuchen, aus dem etwas zu machen, was mir zur Verfügung steht.
Ich weiß nicht, ob das, was ich mache, Kunst ist. Ich habe meine Schwierigkeiten mit dem Begriff. Eigentlich male ich lediglich mit minimalem Aufwand Striche, Muster und Farben in alte Buchseiten. Das kann jede*r. Daher gab es in meinen bisherigen Ausstellungen auch immer einen Tisch mit alten Buchseiten und Stiften, sodass Besucher*innen selbst Texte verdunkeln und sie an Wäscheleinen neben meine Bilder hängen konnten. Jede*r kann schwarzmalen. So wie jede*r auch etwas tun kann, um die Welt ein Stückchen besser zu machen, ein Stückchen heller, auf die ganz eigene Weise; durch Wissenschaft oder Kunst, durch zivilgesellschaftliches Engagement oder durch mehr Mitgefühl und Verständnis füreinander im Alltag.
Mit meinen Textverdunkelungen versuche ich, Momente zu schaffen, die irritieren, die die Gedanken kurz zum Stolpern bringen und einen Reflexionsmoment provozieren. Im besten Fall sind diese Miniaturen dann positive Konfusionsbeschleuniger. Das Spiel mit den Spannungsfeldern in den Bildern (bunt/schwarz, Text/Illustration) und der Umgang mit den gegebenen Rahmen (eine Buchseite) lässt sich damit vielleicht auch als Metapher für den Umgang mit Krisen- und Katastrophen-Szenarien nutzen: trotz Blackout bunt bleiben, durch Schwarzmalen für etwas Erhellung sorgen und anderes Handeln inspirieren, im Rahmen des Gegebenen das Neue gestalten.
Lizensierung
Dirk Bathen (2024) Creative Commons-Lizenz CC BY 4.0.
- 1 Vgl. Kleon, Austin (2010): Newspaper Blackout, New York, NY: Perennial.
- 2 Vgl. Phillips, Tom (1970): A Humument. A Treated Victorian Novel, London: Thames & Hudson. Die Fertigstellung erfolgte im Jahr 2016.