Klima, Kollaps, Kommunikation

Perspektiven auf das Climate Endgame

Ein Interview von Svenja Nette

Wenn die Geier an die Tür klopfen

Gespräch über das Artensterben in Mexiko mit Roberto Ruiz

Ironischerweise lernte ich Roberto an einem Feuer kennen, auf einer Konferenz im Frühjahr 2024 bei Amsterdam. 

Wir sind in einem in die Jahre gekommenen Eventhotel einer niederländischen Vorstadt einquartiert. Die dreitägige Konferenz bringt Menschen aus vielen Ländern zusammen, die sich über ihre Projekte rund um die Regeneration von Landschaften und Ökosystemen austauschen. Zwei polnische Agraringenieure, die Bäume in die Landwirtschaft zurückbringen, eine indische Delegation voller Enthusiasmus über lokale CO2-Zertifikate, viele Beteiligte rund um die Wiedervernässung von Mooren, oder auch ein Landwirt aus Australien, der trockenresistente Sonderkulturen vermarkten möchte. Ich bin als Vertreterin einer der trockensten Regionen in Deutschland dabei, dem südwestlichen Brandenburg, wo wir seit einigen Monaten mit Menschen aus Forst, Landwirtschaft und Verwaltung über mögliche Wege zu mehr Wasserrückhalt in der Landschaft debattieren. 

Die Gespräche in den Pausen der Konferenz wiederholen sich in verschiedenen Variationen der Erzählung, dass zwar alles etwas langsam und ziemlich unterfinanziert vorangeht, dass die Zukunft aber sicherlich mehr Gelder in die Regenerationsbewegung spülen wird. Die meisten hier setzen viel Hoffnung in die großen Handelsunternehmen, deren allesamt männliche Vertreter vor Ort sektseelig versichern, dass sie für ihre Lieferkettensicherung zukünftig mehr Mittel in regenerative Landbewirtschaftungsformen fließen lassen werden. 

Roberto fällt auf eine fast absurde Art aus dem Rahmen dieser Veranstaltung, indem er in all den zukunftsgläubigen Unterhaltungen hier wie ein verzweifelter Bote des bereits stattfindenden Zusammenbruchs agiert. Er war mir im Laufe des Tages immer wieder aufgefallen, da er Konferenzteilnehmende ungefragt zur Seite zog und ihnen mit einer enthusiastischen Dringlichkeit Videos vom brennenden Regenwald in seiner Heimat zeigte, der mexikanischen Sierra Gorda. Die meisten seiner Gesprächspartner schienen nur eine höfliche kurze Weile zuzuhören, bevor sie sich in die nächste Session aufmachten. Seine Videos voller lodernder Bäume und schreiender Feuerwehrleute erzählen davon, wie gewaltvoll sich Kollaps auf lokaler Ebene manifestiert, und bezeugen, dass er im Hier und Jetzt stattfindet

Roberto Pedraza Ruiz ist Wildtierfotograf – und damit automatisch zum Aktivisten für Naturschutz geworden. Hier ist er bei einem Flächenbrand 2021 mit seiner Crew im mexikanischen Nebelwald im Einsatz. © Roberto Pedraza Ruiz

Am abendlichen Lagerfeuer setze ich mich neben Roberto und bitte ihn, mir seine Geschichte zu erzählen. Sie beginnt damit, dass er als Neunjähriger mit seiner Familie in die mexikanische Bergkette der Sierra Gorda gezogen ist. Hier haben seine Eltern aus innerer Überzeugung begonnen, den Wald der Region aufzuforsten und schlussendlich eine Umweltorganisation gegründet, die mittlerweile unter dem Namen Sierra Gorda Ecological Group die Wiederaufforstung und den Schutz großer Bereiche des Gebiets erwirkt hat.

Roberto, wie verortest du dich in einer Welt in der Krise?

Roberto Ruiz

Meine Identität bestand von Kindesbeinen an daraus, dass ich jemand bin, der Bäume pflanzt. Aber in den letzten Jahren habe ich mich zwangsweise zum Feuerwehrmann gewandelt. Wir erleben hier gerade die dritte Hitzewelle in Mexiko, die alle bisherigen Rekorde in diesem Land gebrochen hat. Letzte Woche war ich an der Bekämpfung von drei verschiedenen Großfeuern beteiligt. Das Brandverhalten wandelt sich. Es verhält sich heftiger, weil es auf eine ausgetrocknete Landschaft trifft. Alles ist Zunder. Maximal bereit, in Flammen aufzugehen.

Du lebst in einem Nebelwald mit über 2000 mm Niederschlag pro Jahr, sollte der Wald dort überhaupt jemals brennen?

Roberto Ruiz

Brände gab es schon immer, aber nicht in diesem Ausmaß und nicht in dieser Intensität. In den letzten Monaten haben die Hitzewellen viele Wildtiere in der Region getötet, und das fühlt sich wie ein Schlag ins Gesicht für mich an. Vögel, die tot von den Bäumen fallen. Hunderte von Papageien verbrannt, deren Populationen bereits klein und bedroht waren. Im südlichen Teil wurden Brüllaffen wirklich einfach geröstet … dieses Jahr haben wir einen enormen Populationsverlust. Ich weiß nicht, was sich alle immer unter einem „Extinction Event“ vorstellen, aber wir durchleben das gerade, hier und jetzt.

© Roberto Pedraza Ruiz

Was bedeutet das Durchleben genau für euch Menschen in dieser Region, was bekommt man davon überhaupt mit?

Roberto Ruiz

Es geschehen einfach Dinge, von denen ich noch nie zuvor gehört habe. Zum Beispiel die WhatsApp-Nachricht meiner Cousine, die sie mir während der ersten Hitzewelle an einem Aprilmorgen dieses Jahr schickte: Sie bat mich um Hilfe, weil sie auf ihrer Terrasse etwa vierzig riesige Geier entdeckt hatte. Geier kommen nie so nah an die Häuser heran. Aber diese Geier haben an dem Morgen mit den Schnäbeln an ihre Tür geklopft. Ich fand das sehr unheimlich. Ich meine, diese Vögel waren verzweifelt. Sie wussten, dass die Hitze an dem Tag zu viel für sie wird, und versuchten, bei Menschen Schutz zu finden. Das ist Wahnsinn! Man muss sich als Tier schon sehr ausweglos fühlen, um bei Menschen Schutz zu suchen ... Meine Cousine hat mich gefragt, was sie tun soll. Weil wer will schon vierzig Geier in seinem Haus haben? Ich sagte ihr, sie solle etwas Wasser nach draußen stellen und abwarten. Sie sind dann tatsächlich irgendwann wieder weggeflogen.

Und trotz all dem Drama, was hier passiert, ist die große Leitlinie für die Leute immer noch: „Töte alles, was sich bewegt, ohne Gnade“. Jede Schlange, jedes Säugetier. Erschieß es, erschieß es, erschieß es … Von den Aras zum Beispiel gibt es nur noch sehr wenige, vielleicht einhundert Exemplare in der gesamten Sierra Gorda. Sie bilden ein lebenslanges Paar, wenn sie ihren Partner verlieren, paaren sie sich nie wieder. Sie sind also recht anständig, aber leider nicht sehr resilient. Es gibt immer noch alte Leute, die sich an bestimmt fünfhundert Aras in einem einzigen Schwarm erinnern. Ich selber kann mich noch an einige der Schwärme erinnern, die dann an einem einzigen Nachmittag erlegt wurden. Da werden dreißig Aras einfach so erschossen, weil sie „zu laut“ waren. Irgendwann kamen die billigen 22-Kaliber-Geschosse in die Läden – perfekt, um die Aras zu töten. Die Einheimischen benehmen sich, als gehörten sie nicht zu diesem Land.

Roberto erzählt greifbar betroffen, wütend und irgendwie verbissen. Paradoxerweise scheint diese Rauheit aus seiner tiefen Hingabe zu den Lebewesen und der Landschaft seiner Heimat zu entstammen. Dieser Widerspruch macht mich neugierig:

Schaffst du dir bewussten Raum für die Weichheit und Zärtlichkeit in deiner Arbeit, wenn dich so vieles zutiefst frustriert und verärgert? Wo füllt sich für dich diese tiefe Motivation wieder auf, aus der heraus du für die Sierra Gorda kämpfst?

Roberto Ruiz

Meine Fotografie bringt mich an diesen Ort der Weichheit. Angefangen hat das alles im Jahr 2010. Wir arbeiteten an einem Monitoring Projekt über die Population von Jaguaren in unserer Region. Dadurch hatte ich einen Ordner mit Wildkamerafotos von Jaguaren in freier Wildbahn auf meinem Laptop. In der Zeit ging ich mit unserem Finanzierungspartner, dem World Land Trust, auf eine Reise nach Großbritannien. Wir trafen uns in London mit zwei Damen von einem großen Unternehmen und ich hielt ihnen meine übliche PowerPoint-Präsentation: „Ich komme aus der Sierra Gorda und wir arbeiten daran, die Natur zu schützen ...“ Ich konnte die langsam nach unten sackenden Gesichter der Damen sehen: „Oh, dieser langweilige Typ, wann hält er endlich die Klappe“ (lacht). Und dann zeigte ich eher zufällig das Foto des Jaguars, das in der Woche zuvor reingekommen war. Und als dieser große, fette Jaguar auftauchte, veränderte sich die Energie der beiden Frauen schlagartig, sie hingen auf einmal an meinen Lippen! Da verstand ich, was gute Fotos für unsere Arbeit bedeuten könnten …

© Roberto Pedraza Ruiz
Roberto Ruiz

Die Wildtierfotografie ist für mich zur Therapie geworden und dient gleichzeitig als wichtiges Instrument für unser Projekt. Sie zeigt die berührende Schönheit, in der wir hier leben. Meine Freizeit verbringe ich mittlerweile hauptsächlich damit, Tieren hinterherzujagen – auf eine nette Art und Weise (lacht). Ich sehe mich in meiner Arbeit als Fotograf wie eine Stimme für all diejenigen, die keine Stimme haben. All die lebendigen Wesen des Waldes. Es quält mich zutiefst, dass sie aufgrund des Drucks unserer Spezies immer weiter verschwinden. Ich schäme mich eigentlich dafür, ein Mensch zu sein.

Träumst du von all diesen Dingen? Bist du jemand, der nachts träumt?

Roberto Ruiz

Ich bin jemand, der nachts nicht schläft.

Du liegst mit allem wach?

Roberto Ruiz

Ich selbst habe keine Kinder, aber mein Bruder hat welche. Und ich liebe die Kleinen wirklich, diese Kinder, die ich nie hatte. Und manchmal liege ich einfach wach und mache mir Sorgen um ihre Zukunft. Was diese jungen Leute erleben und erleiden werden. Ich wäre entsetzt, wenn ich in diesen Zeiten gerade Vater wäre, der plant, ihnen eine Schule und eine Ausbildung zu sichern. Ich glaube, damit zu planen ist grob naiv. Ich müsste eher dafür sorgen, dass sie in den nächsten Jahren Wasser und Nahrung haben werden. Mexiko geht das Wasser aus. In allen großen Städten. Sie pumpen gerade den letzten Tropfen ab. Die Belastungsgrenze für uns ist also bald erreicht. Wir steuern auf einen gigantischen Zusammenbruch zu und wir wollen es nicht sehen. 

Ich meine, wir wissen, dass die Schlacht verloren ist. Ich mache mir nichts vor. Aber wir können kleine Kämpfe gewinnen. Und das ist gut genug. Meistens glaube ich, dass ich an der Seite des Lebens kämpfe. Nicht auf der Seite des menschlichen Egoismus und der Gier. Ich wache also auf und tue alles, was ich kann, um den Druck unserer derzeitigen Lebensweisen auf die Ökosysteme um uns herum auszubremsen. Und das ist gut genug für mich.

Über die Autorin

Portrait Svenja Nette

Svenja Nette

Lizensierung

Svenja Nette (2024) Creative Commons-Lizenz CC BY 4.0.