Ein Interview von Theresa Leisgang und Helen Britt
Wenn wir wieder wahrnehmen
Heike Pourian ist Tänzerin und Autorin. In ihren Texten und Workshops beschäftigt sie sich mit der Frage, wie Transformation gelingen kann – wie wir unser menschliches Grundbedürfnis nach Sicherheit weniger über Kontrolle und stattdessen über ein Wahrnehmen unserer Verbundenheit mit dem Leben erfüllen können. Sie zeigt dabei auf einen Teufelskreis: Je mehr wir eine Krise kontrollieren wollen, desto angespannter sind wir, desto weniger fühlen wir uns sicher und verbunden – und desto mehr beschleunigen wir die Krisen, die wir lösen wollen. In ihrer Arbeit verwebt Heike persönliche Geschichten und das Wissen über unser Nervensystem mit einem klaren Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen.
Für das Interview treffen wir uns online nach einem langen Arbeitstag. Da uns alle die Frage bewegt, welche Bedingungen zu wirklich guten Gesprächen beitragen, entscheiden wir uns, bevor es losgeht fünf Minuten zu tanzen. Wir wollen Raum schaffen für Antworten, die uns selbst überraschen und bewegen, deshalb schon vorab die Frage: Wenn wir uns mit dem verbinden, was gerade in der Welt passiert, was spüren wir dann?
Heike, was bewegt dich gerade? Wie schaust du in die Welt?
Heute hatte ich schon richtig viele sinnstiftende Gespräche, mit dem Bürgermeister hier im Ort, mit meiner Tochter. Darum bin ich gerade zuversichtlich gestimmt. Wenn wir uns in Präsenz und Kontakt miteinander üben, dann ist das ansteckend. Das habe ich heute erlebt und das hat ganz viel Kraft.
Wie ich auf die Welt schaue, ist allerdings jeden Tag anders. Es kommt sehr darauf an, ob ich Zeitung gelesen habe oder nicht, ob ich mir Zeit für bewusstes Bewegen und Spüren genommen habe, ob ich meditiert habe oder nicht. Es hängt von meinem Kontakt zu mir, zu anderen Menschen und auch zu Meinungen und Informationen ab. Und auch von meinem Kontakt zu dieser Planetin. Daraus erwächst ein ganz vielschichtiger Blick auf die Welt, in dem beides Platz hat: meine Hoffnung und meine Verzweiflung.
Du hast ein Buch geschrieben mit dem Titel Wenn wir wieder wahrnehmen, in dem es auch viel um unser Nervensystem geht.[1] Wie hängen systemische Krisen und Nervensysteme zusammen?
Das Nervensystem ist das Informations-Netzwerk unseres Organismus. Es sorgt dafür, dass die unterschiedlichen Teile unseres Körpers wahrnehmend miteinander verbunden sind. Und dass sie sich gegenseitig die Informationen zuspielen, die sie brauchen, um als Organismus das Leben aufrecht zu erhalten.
Anders als viele denken, geht das längst nicht alles übers Gehirn. Ganz viel läuft über fasziale Strukturen, also über das Gewebe.
Was hat das nun also mit dem Zustand der Welt zu tun und mit der Krise, in der wir uns gerade befinden? Oft wird mir die Frage gestellt wird: Wie sind wir denn überhaupt hierhin gekommen? Meine Antwort darauf ist: Wir sind überfordert. Und Überforderung hat sehr viel mit dem Nervensystem zu tun.
Das ist keine besonders weit verbreitete Sicht in der öffentlichen Debatte...
Es gibt diesen treffenden Satz von Shelley Sacks: „Anders als ein Baum, der weiß, wie es geht, Baum zu sein, wissen wir Menschen noch nicht, wie es geht, Mensch zu sein.“ Dass wir das Mensch-Sein erst lernen müssen, bedeutet auch, dass wir viele Fehler machen. Aus Unsicherheit und Überforderung heraus haben viele Kulturen den Weg der Kontrolle gewählt. Wir Menschen können mehr kontrollieren als viele andere Säugetiere. Die Schattenseite davon ist, dass wir uns mit dieser Fähigkeit zu kontrollieren immer weiter aus dem Lebensgefüge entfernen. Dass wir immer weniger Vertrauen erleben. Das wiederum führt zu Anspannung.
Wir wissen inzwischen, dass Anspannung unsere Körper weniger durchlässig macht, weniger empfänglich. Das heißt, je mehr wir kontrollieren, desto starrer werden wir und können auch nicht wahrnehmen, wenn es gerade gar keine Bedrohung gibt. Und wir können auch nicht wahrnehmen, wie es anderen Menschen und Lebewesen geht.
Heißt das also, dass unsere Überforderung dazu führt, dass wir oft schwierige Informationen verdrängen?
Ja genau. Ab einer bestimmten Überforderungsgrenze entscheiden Nervensysteme, abzuschalten und taub zu werden. Das passiert häufig. Es ist überfordernd zu sehen, worauf wir gerade zusteuern. Wenn das Stresslevel steigt, wird unser Erleben von uns selbst und der Welt immer starrer.
Andersherum gesagt: Unsere Fähigkeit, unser Umfeld wahrzunehmen, ist abhängig von einem entspannten Nervensystem. Das bedeutet, je weniger Aufregung in mir ist, desto verbundener fühle ich mich, und spüre, dass ich in eine große Lebensintelligenz eingebettet bin.
Das heißt nicht, dass ich sicher bin vor dem Tod. Aber er verliert seinen Schrecken. Ich bin sehr froh, um das Zyklische zu wissen: Irgendwann werde ich Dünger für anderes Leben werden. Wunderbar. Aber wenn ich das nicht habe, weil mir diese Grund-Entspannung fehlt, die anerkennt, wie Leben funktioniert, dann habe ich Angst vor dem Tod – und in dem Moment, wo ich den Tod besiegen will, verliere ich ja auch die Demut vor dem Leben.
Viele Reaktionen auf die Krise kommen nicht aus einem entspannten Gefühl, sondern aus einer Dringlichkeit oder Angst. Der Philosoph Báyò Akómoláfè fragt: „Könnte es sein, dass die Art, wie wir auf die Krise reagieren, Teil der Krise ist?“
Das ist eine meiner Lieblingsfragen, denn es geht hier ja darum: Wie kann Transformation gelingen? Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem immer mehr Menschen erkennen, dass das System, in dem wir leben, endlich ist. Viele fühlen sich zum Handeln gerufen.
Aber es ist wichtig zu erkennen, dass wir oft Konkurrenz, Entweder-Oder-Denken und Kontrolle reproduzieren, während wir versuchen, etwas zu verändern. Je angespannter unsere Nervensysteme sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir alte Muster wiederholen. In dieser Debatte um die einzig richtige Lösung geht so viel Energie verloren.
Ich nehme gerne das Beispiel Geld. Da gibt es Menschen, die große Visionen haben, radikal sind in ihrer Denkweise und sich engagiert der Aufgabe widmen, eine Gesellschaft ganz ohne Geld zu visionieren. Andere sagen: Das ist doch unrealistisch. Lasst uns mal damit beginnen, den Gemeinwohl-Gedanken ins bestehende Wirtschaftssystem hineinzubringen.
Ich habe einmal eine Podiumsdiskussion zu Wegen der wirtschaftlichen Transformation erlebt. Da haben sich zwei Männer auf der Bühne gestritten, anstatt sich mit ihren Ansätzen gegenseitig zu befruchten. Das Ende vom Lied war: Das Publikum ist frustriert nach Hause gegangen, dabei waren sie gekommen, um zu hören, wie Veränderung machbar ist. Es wäre so hilfreich gewesen, wenn der eine gesagt hätte: „Danke, dass du die große Vision denkst, damit ich immer wieder weiß, wohin ich mich ausrichten kann, wohin ich eigentlich will. Dass ich nicht stecken bleibe in kleinen Schritten.“ Und der andere: „Danke, dass du bereit bist, Kompromisse zu machen, danke, dass du ins Handeln kommst!“
Das hat ja dann auch wieder mit unserer Kommunikationsfähigkeit zu tun.
Ja klar! Wir können uns überall in Rechthaberei verstricken, zum Beispiel darüber, wie es denn nun sein wird in der Klimakrise. Wird es denn jetzt heißer oder doch eher viel kälter, wenn die Atlantikströme plötzlich versiegen, wird es trockener oder nasser…? Ich erlebe so viel Beharren darauf, dass wir wissen müssen, was kommt, um handeln zu können. Anstatt beim Wahrnehmen zu bleiben und beim Anerkennen dessen, was sich schon zeigt. Das ist ja schon erschreckend genug. Dafür müssen wir gar nicht in die Zukunft gucken.
Natürlich ist es wichtig, eine Prognose zu haben, ab wann Hamburg und die Niederlande unter Wasser stehen werden. Aber, wenn wir in der Wahrnehmung bleiben, brauchen wir letztendlich nur wenig Vorhersagen, weil wir schon längst mitbekommen, was passiert. Weil wir mitbekommen, dass eine Mais-Monokultur dem Boden nicht guttut und die Humusschicht immer dünner wird und die Erde weggespült wird: Eigentlich liegt es auf der Hand, sich zu fragen, wie lange da noch etwas wachsen wird. Es gibt ja genug Dinge, die jetzt wahrnehmbar sind – ganz ohne Prognosen – und auch ohne besonders sensibel oder gut informiert zu sein.
An vielen Orten auf der Welt nehmen Menschen den Klimawandel jeden Tag viel direkter wahr, weil sie es müssen. Hier in Deutschland ist es schon leichter, das zu verdrängen, oder?
Ja und Nein. Ich nehme schon seit ich ein Kind bin wahr, dass immer mehr Erde unter Asphalt und Beton verschwindet – ich hätte das nur nicht Versiegelung nennen können – oder Flächenfraß, ich hatte kein Wort dafür. Aber ich konnte sehen, dass da Parkplätze und Supermärkte gebaut wurden, wo vorher eine Wiese war, und dass es viel schöner war als sich da noch ein blumengesäumter Bach schlängelte. Ich konnte schon als Kind mitbekommen, dass ich ab irgendeiner Temperatur nicht mehr barfuß auf dem Asphalt laufen konnte, weil der sich so aufheizt. Und dass es angenehmer ist, auf einer Wiese zu laufen. Das können alle. Es ist offensichtlich.
Was das für ein globales, strukturelles Problem ist, logische Folge des Diktats von Wirtschaftswachstum, das konnte ich als Kind nicht erfassen. Aber dass da etwas richtig falsch läuft, das habe ich gespürt. Ich glaube, an vielen Stellen können wir es auf unseren gesunden Menschenverstand herunterbrechen: Wir bekommen mit, ob etwas dem Leben dient oder nicht.
Mir ist an dieser Stelle wichtig zu sagen, dass es zu kurz greift, wenn wir nur übers Klima reden. Für mich ist es wichtig, anzuerkennen, dass es sich um eine Omnikrise handelt. Da läuft etwas grundlegend falsch: Dass es so etwas wie Müll gibt. Dass überhaupt irgendjemand obdachlos ist. Dass Menschen fliehen müssen. Das hat strukturell alles miteinander zu tun.
Die Lehrpläne im Schulsystem sehen momentan weder ein Schulfach „Polykrise“ noch eines zur „Wahrnehmung der Welt“ vor…
Im globalen Norden sind wir da hinein konditioniert worden, all diese Dinge als normal wahrzunehmen. Und das ist für mich der Kern des Erschreckens: Dass mir suggeriert wurde, all das sei normal, bis ich dachte, ganz allein damit zu sein, das als falsch zu empfinden – also muss mit mir, mit meiner Wahrnehmung irgendwas nicht stimmen. Wenn da niemand ist und uns sagt: „Ja, das nimmst du ganz richtig wahr“, dann werden wir immer einsamer. Wir brauchen Resonanzraum, um mit unserer Wahrnehmung und unserem Schmerz auftauchen zu können. Für mich ist das der Kern dieses ganzen Komplexes rund um Klima, Kollaps und Kommunikation: Dass wir Menschen ihre Wahrnehmung nicht absprechen. Und dass wir lernen, einander in unserem Entsetzen abzubilden. Und dabei wird das Entsetzen ja erst mal größer und nicht kleiner. Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam lernen, das zu beinhalten, anstatt uns in die Resignation zurückzuziehen oder in hektischen Aktionismus auszubrennen …
Ja, danke für diese Perspektive. Es war gerade anregend, sich wieder mit dem eigenen Kindsein zu verbinden. Du hast es am Ende schon erwähnt, aber wir würden gerne noch mehr dazu hören: Was genau passiert denn, wenn wir wieder wahrnehmen?
Ja, das ist eine Frage, die mir oft gestellt wird – manchmal auch vorwurfsvoll. Viele Leute sagen: „Wenn ich mich dem Wahrnehmen öffne, die duftenden Blumen und den Boden unter meinen Füßen wieder spüre, dann ist das ja schön. Aber gleichzeitig muss ich dann auch auch so viel Schlimmes sehen und fühlen, das will ich nicht.“
„Wenn wir wieder wahrnehmen“ ist also kein Heilsversprechen. Dann wird nicht einfach alles fein, sondern es wird oft erst einmal richtig unangenehm. Das liegt daran, dass wir aus dieser Erstarrung herauskommen, von der ich vorhin gesprochen habe. Dass wir unsere Panzerung bröseln lassen. Und die Panzerung hat uns ja davor geschützt, den ganzen Schrecken wahrzunehmen.
Ich sehe das auch bei der Generation meiner Eltern, die den Krieg noch mitbekommen haben. Es hat einen Sinn, warum sie bestimmte Dinge nicht spüren können. Das Verschließen hat dazu beigetragen, dass sie überhaupt überleben konnten.
Als Jugendliche war ich oft wütend und ungeduldig, dass ich die Generation vor mir emotional so unerreichbar erlebte, bis ich demütig wurde und die Muster erkannte. Ich erlebe es so, dass meine Generation ganz viel Fühlarbeit macht – stellvertretend für unsere Eltern-Generation. Den Generationen, die den Krieg nicht unmittelbar erlebt haben, ist es überhaupt erst möglich, Stück für Stück Dinge wahrzunehmen und daran nicht zu zerbrechen.
Also ist das für dich kein angenehmer, aber dennoch ein notwendiger Prozess, dass wir wieder wahrnehmen?
Ja! Das ist für mich ein sehr notwendiger Prozess und ich will anerkennen, dass es nicht allen gleichermaßen möglich ist. Ich bin gerade ganz viel mit strukturellen Privilegien beschäftigt, und merke ich immer wieder, dass dieser Aspekt bei der Aufzählung von Privilegien tatsächlich ganz selten vorkommt.
Das Privileg, viele, auch schwierige Informationen verarbeiten zu können?
Genau. Es ist ein Privileg, nicht so viel Traumalast zu haben. Ich kann nicht zu dir sagen, „jetzt fühl und spür doch mal endlich!“, weil ich nicht wissen kann, ob das überlebenswichtig für dich ist, dass du das nicht tust. Es gibt Dinge, die kann man einfach nicht aushalten und das ist wichtig anzuerkennen.
Wie würdest du sagen, hängen die Fähigkeit, die Krise zu fühlen, und ein aktives Handeln zusammen? Einige psychologische Studien sagen, dass Handeln nicht unbedingt damit zusammenhängt, wie viel wir wissen.
Na ja, erst einmal sind Wissen und Spüren nicht das Gleiche. Doch vor allem ist mir wichtig, von dieser Linearität wegzukommen: Je mehr ich spüren kann, desto handlungsfähiger werde ich. Nein. Vielleicht ist sogar zunächst das Gegenteil der Fall. Für manche Menschen ist, wenn sie sich dem Spüren öffnen, erst einmal Rückzug dran, um das alles zu verdauen. Sie finden dann in eine Handlungsfähigkeit, wenn sie das ein wenig in sich sortiert haben. Andere Leute brauchen richtig Schock und Konfrontation mit furchtbaren Tatsachen und genau das bringt sie ins Handeln.
Ich glaube, es ist wesentlich, in der Kommunikation über Klima und Kollaps anzuerkennen, dass es nicht den einen Weg gibt, wie wir alle erwischen. Wir werden nicht die eine Strategie finden, mit der wir richtig kommunizieren. Auch da gilt es wieder, mein Gegenüber wahrzunehmen. Wer bist du denn? Was ist denn dein Zugang, der es dir leichter macht, nicht mehr die Augen zu verschließen? Ich bin zum Beispiel überhaupt kein Zahlenmensch – wenn du mir sagst, dass seit 1990 in Deutschland 75 Prozent der Insekten verschwunden sind, erreicht mich das nicht wirklich. Aber ich sehe jeden Tag zig schmerzhafte Beispiele dafür, wie wir mit unserer Lebensweise den Grundprinzipien des Lebens Gewalt antun – und das bringt mich ins Handeln.
Ich glaube, das ist so wichtig zu erkennen: Wir können Menschen erreichen, wenn wir wahrnehmen, wo sie sind. Wo sie herausgefordert sind, wo sie sich taub machen, um nicht zu verzweifeln und was für Strategien sie haben, mit diesem Wahnsinn umzugehen.
Schön, dass du diesen Wahrnehmungsaspekt an der Stelle noch einmal einbringst. Wir haben im Forschungsprojekt darüber auch viel nachgedacht und versucht, unsere Kommunikation an die jeweiligen Kontexte anzupassen. Danke für das Gespräch! Wir nehmen diese Frage für die Zukunft mit: Wie gelingt es, wirklich wahrnehmend zu sprechen?
Lizensierung
Theresa Leisgang und Helen Britt (2024) Creative Commons-Lizenz CC BY 4.0.
- 1 Pourian, Heike (2022): Wenn wir wieder wahrnehmen. Wach und spürend den Krisen unserer Zeit begegnen. Mit Bildern von Sybille Reichel, 2., überarbeitete Aufl., Waldkappel: Ideen³ e.V.