Ein Interview von Theresa Leisgang und Larry Faust
Lernen zu blühen wie ein Löwenzahn im Asphalt
Der deutschsprachige Klimadiskurs ist festgefahren. Er dreht sich im Kreis, angetrieben von Wortneuschöpfungen der fossilen Lobby: Ganz Deutschland echauffiert sich über den „Heizhammer“, Klimaschutzmaßnahmen werden zur „Verbotsmentalität“, alles, was bleibt: „Technologieoffenheit“. Der Klimabewegung hingegen fehlt der not-wendige Wortschatz, um zu inspirieren. Neue Welten zu eröffnen. Eine andere Zukunft überhaupt denkbar zu machen. Wichtige Impulse zur Frage, wie Worte unser Denken und Handeln beeinflussen, lieferte in den letzten Jahren Kübra Gümüşay. Sie folgt in ihrem Bestseller Sprache & Sein einer Sehnsucht: Der Sehnsucht nach einer Sprache, die Menschen nicht auf Kategorien reduziert. Nach einem Sprechen, das uns in unserem Facettenreichtum existieren lässt. Nach gemeinschaftlichem Denken in einer sich polarisierenden Welt. Wir treffen sie digital in ihrem Homeoffice in Hamburg, wo sie derzeit Fellow am New Institute ist und die Gesprächsreihe „Utopia Talks“ am Thalia Theater moderiert. Uns interessiert, wie sie auf alternative Zukünfte, reale Utopien und die Politik der Imagination blickt, die sie derzeit erforscht.[1]
Kübra, lass uns mit deinen eigenen Worten starten. Du schreibst im Sammelband Unlearn Patriarchy: „Wer antritt, die Missstände unserer Gesellschaft zu bekämpfen, muss in zwei Welten leben. In der Welt, wie sie ist, und in der Welt, wie sie sein könnte, einer Utopie.“ [2] Wie erlebst du diesen Spagat?
Dieser Spagat kann einem besonders deutlich werden, wenn man in Verantwortung für andere Menschen ist, insbesondere für Kinder. Es ist nochmal ein besonderer Stretch, wenn es ein rassifiziertes Kind ist, das Unterdrückung und Ausgrenzung erfahren wird. Du musst einerseits die Welt erklären, wie sie derzeit ist, aber auch gleichzeitig den Blick dafür öffnen, dass es anders sein könnte. Zugleich sollst du diesem jungen Menschen die Werte mitgeben, die er braucht, um durch sein Handeln diese andere Welt auch selbst zu erschaffen. Aber auch Erwachsene müssen diesen Spagat bewältigen, wenn sie für bestimmte Ideale kämpfen. Leben im Jetzt — und in einer wünschenswerten Zukunft zugleich.
Wir haben den Klimadiskurs im deutschsprachigen Raum analysiert – und sehen angesichts der negativen Nachrichtenflut einen Ruf nach mehr positiven Geschichten, nach einem konstruktiven Dreh jeder Klimastory. Laufen wir damit nicht Gefahr, zu vergessen anzuerkennen, wie ernst die Lage ist und was fundamental falsch läuft? Wie siehst du das?
Ich war in den letzten Jahren sehr viel auf Recherche zu sogenannten „realen Utopien“ – also Orten in der Gegenwart, in denen Menschen bereits Ideale und Werte umsetzen, die in der Gesamtgesellschaft nicht etabliert sind. Eine Definition von Erik Olin Wright ist, dass solche realen Utopien häufig an den Rändern unserer Gesellschaft zu finden sind. In einem Interview wurde ich dann von einer Journalistin gefragt, ob es auch reale Dystopien gebe. Zuerst fand ich die Frage irritierend, aber dann wurde mir klar, dass wir in einer realen Dystopie leben. Die Anzeichen sind überall sichtbar.
Wo siehst du die reale Dystopie im Jahr 2024 besonders deutlich?
Ist es keine dystopische Gegenwart, wenn wir wissen, dass in bestimmten Teilen der Erde ein würdevolles Leben jetzt schon unmöglich ist? Ist es nicht dystopisch, dass die massive Umweltzerstörung, die durch Kriege verursacht wird, im deutschen Klimadiskurs kaum berücksichtigt wird? Es gibt so viele Beispiele: Derzeit fließen Milliarden in die Aufrüstung – Geld, was fehlt, um ein würdevolles Leben für alle zu ermöglichen. Wir müssen gar nicht weit weggucken. Es reicht eigentlich schon ein Spaziergang zu den Hauptbahnhöfen in deutschen Großstädten: Ist es nicht ungeheuerlich, dass wir in einer der reichsten Industrienationen Menschen haben, die unfreiwillig obdachlos sind? Dass sie nicht nur ohne Obdach leben, sondern auch noch systematisch ausgeschlossen und kriminalisiert werden, durch hostile Architektur wie Parkbänke mit Armlehnen, auf denen sie nicht schlafen sollen? Diese reale Dystopie ist die Luft, die wir atmen. Aber wir nehmen sie gar nicht als solche wahr, sie ist unsere Normalität.
Um zurückzukommen auf den Anspruch, Erzählungen über die Welt in der Klimakrise müssten konstruktiv sein, hake ich nochmal nach: Sollten wir diese reale Dystopie nicht auch klar benennen?
Ja klar! Zu skandalisieren was ist, ist ein wichtiger Schritt, um überhaupt eine andere Welt denken zu können. Was ich schwierig finde, ist, wenn man bei diesem ersten Schritt verweilt. Die Skandalisierung der Welt muss einhergehen mit dem Öffnen des Blickes dafür, was stattdessen sein könnte. Ohne Geschichten der Selbstwirksamkeit verfallen wir in Ohnmacht.
Wer schon einmal mit Menschen gesprochen hat, die in Kriegsgebieten leben mussten, weiß: Es ist nicht so, dass die Menschen dort die ganze Zeit unglücklich vor sich hinvegetieren. Da findet Freude statt und Tanz und Kunst – trotz allem. Menschen sind adaptiv, sie können trotz widrigster Umstände Schönheit erschaffen. Das ist keine resignierte Normalisierung der unterdrückenden, entwürdigenden Umstände, sondern zeigt uns, wie widerständiges Schaffen auch aussehen kann.
In den Klimawissenschaften richtet sich der Blick oft in die Zukunft und beleuchtet dystopische Szenarien im Jahr 2050, oder zum Ende des Jahrhunderts. Welchen Blick hast du darauf?
Die Frage ist doch: Wie sehr muss es brennen, damit ein Zustand als Notstand erkannt wird? Es gibt immer mehr Daten, die die Realität belegen, aber es findet keine Veränderung in der Art und Weise statt, wie politisch entschieden und gehandelt wird. Mehr Daten und mehr Skandalisierungen allein ändern leider nichts.
In deinem Buch Sprache und Sein[3] schreibst du: „Die Armen der Welt, die Ausgegrenzten der Welt, sie kennen die hässlichsten Fratzen der Klimakrise, des Kapitalismus, des Konsumwahns, der sozialen Medien. Es ist manchmal tragikomisch, den Privilegierten dabei zuzuschauen, wie sie über die Herausforderungen der Zukunft grübeln und zugleich all jene ignorieren, die diese Herausforderungen längst erleben, die längst darüber reden und schreiben.“ Viele Menschen leben bereits in einer Welt, die zerfällt. Was können wir von ihnen lernen?
Menschen, die soziale Umwälzungen oder Migration durchlebt haben, schlicht jede Person, die aus einem Raster gefallen ist, mit irgendeiner Norm gebrochen hat, weiß um die Veränderlichkeit der Welt. Es ist absolut realitätsfern, die aktuelle Krise als „neue Herausforderung“ zu betrachten. Das kann nur jemandem einfallen, der sich lediglich aus dem Lehnsessel heraus, fernab jeglicher Praxis, theoretische Gedanken macht – statt aus einer eigenen Erfahrung und dem eigenen Erleben heraus oder aus einer tiefergehenden, tatsächlichen Auseinandersetzung mit der realen Praxis und ihrer Komplexität Antworten entstehen zu lassen.
Das Wort ‚Kollaps‘ kommt aus dem Lateinischen und heißt wörtlich übersetzt ‚zusammensinken‘, das ist nur einen Atemzug entfernt von ‚zusammen sinken‘. Welches Potential siehst du darin, wenn wir kollektiv anerkennen, dass wir gerade scheitern? Ganz persönlich fällt es uns oft nicht leicht, Fehler zu machen. Gerade im Kontext der Klima- und Kolonialismusdebatte taucht da ganz schnell Scham und Schuld auf, wenn wir aus einer weißen Positionierung drauf gucken.
Ein Stichwort, was hier gerade gefallen ist, spielt da eine zentrale Rolle, und das ist die Scham. Scham wird ja häufig als etwas betrachtet, was wir abgeben und hinter uns lassen sollten. Und gleichzeitig erleben wir, wie gewaltvoll der Mangel an Scham wirkt – wenn jemand schamlos Menschen unterdrückt, andere hintergeht oder lügt. Ein gesundes Maß an Scham ist in einer Gesellschaft wichtig und ermöglicht uns, aus Fehlern zu lernen. Eine gesunde Portion würde dazu führen, dass wir realisieren, wir haben ausgegrenzt, unterdrückt, gekränkt – sich dann zu schämen, das ist der Moment, in dem wir wachsen.
Das kann ein sehr schmerzvoller Prozess sein. Gleichzeitig ist es auch immer der Moment, an dem ein Mensch an die Grenzen des eigenen Horizonts stößt und die Chance hat, diesen Horizont zu erweitern.
Die Flugscham-Debatte hat gefühlt keine Horizonte erweitert …
Es ist wichtig, hier zu unterscheiden zwischen einem individuellen Gefühl von Scham und einer strukturellen Ebene. Ein sehr destruktives diskursives Werkzeug ist die Abwälzung von strukturellen Missständen auf individuelles Handeln. Zum Beispiel eine Aktivistin zu beschämen, weil sie mit Strohhalm aus Plastikbechern trinkt, oder eine Flugreise macht, während die tatsächlich Verantwortlichen in der Politik sich nicht schämen, ihre Ziele nicht erreicht zu haben, mit denen sie vielleicht zu Beginn der Legislaturperiode angetreten sind. Im politischen Betrieb fehlt diese gesunde Scham, es werden Versprechungen gemacht und aus taktischen Gründen nicht eingehalten.
Ich glaube, was Veränderung bewirken kann, ist diese Brücke zu schlagen, vom individuellen Gefühl von Scham hin zu einer kollektiven Ebene, auf der wir aussprechen: Wir schämen uns dafür, dass wir die Welt, so ungerecht sie ist, normalisieren. Der Moment der Veränderung besteht also darin, anzuerkennen, dass diese Gefühle wichtige soziale Signale sind.
Also geht es weniger um das kollektive Scheitern, sondern darum, dass wir uns kollektiv zu wenig schämen?
Ich sehe da einen Zusammenhang: Ein so unbequemes Gefühl wie Scham kann uns dabei helfen zu erkennen, wo wir stehen und wo die Grenzen anderer sind, wenn wir diese überschreiten und ungewollt Schaden anrichten. Ohne Scham bleiben diese Grenzüberschreitungen konsequenzlos. Zu viel Scham hingegen kann uns handlungsunfähig machen. Genau wie Schmerz beim Lernen unterstützt, kann ein gesundes Maß an Scham die Konsequenzen unseres Handelns aufzeigen und den Prozess der Verantwortungsübernahme für diese einleiten.
In der Diskussion um zukünftige Szenarien sind oft privilegierte Stimmen besonders laut. Wie verändert das den Diskurs?
Dass einer Vision wie der von Elon Musk – etwa die Besiedlung des Mars – nicht konsequent mit Abwehr begegnet wird, weil sie als dystopisch wahrgenommen wird, sondern stattdessen gar Milliardeninvestitionen anzieht, zeigt, dass wir offenbar für das potenzielle Überleben einer kleinen privilegierten Gruppe von Menschen bereit sind, die Welt nachhaltig in den Kollaps zu treiben. Stattdessen könnten wir diese Ressourcen in soziale Bewegungen investieren, die eine gerechtere Welt für alle schaffen. Aber der Kapitalismus erscheint uns in unserer Imagination so alternativlos, so unveränderlich wie es Mark Fisher in Capitalist Realism beschreibt, dass es uns leichter fällt, uns wie in einer Hollywood-esquen Dystopie das Überleben des Stärkeren vorzustellen, als eine gerechtere Gesellschaft.[4]
Es wundert mich nicht, dass häufig Tech-Utopien das Resultat sind von Debatten über die Zukunft, an denen besonders viele Menschen – oder Männer – teilnehmen, die das Privileg haben, sich zurückzulehnen und mal so darüber nachzudenken, „was wäre wenn …?“ – ohne jemals selbst einen Kollapsmoment erlebt zu haben.
Da frage ich mich: Warum gilt es als utopisch, über eine Welt ohne Grenzen, Polizei und Gefängnisse nachzudenken, während ein Businessplan zur Bevölkerung des Mars als realistisch betrachtet wird? Diese Diskrepanzen zeigen, dass wir absichtlich realistische, weil notwendige Ideen als utopisch abtun und entwerten, dabei sind sie absolut dringlich.
Nach all den Monaten, in denen du dich mit möglichen Zukünften beschäftigt hast, interessiert uns natürlich besonders: Was ist deine persönliche Utopie?
Ich habe da so ein Bild von einem Werkzeug, mit dem wir die unterschiedlichsten Dinge machen können: Es ist die Fähigkeit zu lernen, sich in der Gegenwart, an einem Ort zu verwurzeln. Oder wie Robin Wall Kimmerer sagen würde, „to become indigenous to a place“,[5] heimisch werden.
Was würde das bedeuten in einer Welt, wo Flucht und Migration in der Zukunft noch mehr zur Norm gehören als es bislang der Fall ist? Wie sieht Verwurzelung aus in einer Welt, in der wir mehr und mehr in urbanen Räumen leben, die Entfremdung von der Mitwelt und gar den Mitmenschen voraussetzen?
Zu lernen, sich in so einer Gegenwart zu verwurzeln, darin sehe ich transformatives utopisches Potenzial. Und das kann ganz unterschiedlich aussehen: Für manche Menschen könnte es bedeuten, ein Leben lang zu wandern. Für andere, sich ein Leben lang an einem Ort niederzulassen. Für wieder andere bedeutet es vielleicht, sich mit der ganzen Welt zu verwurzeln oder auch erst einmal zu lernen, sich in sich selbst zu verwurzeln.
Wie ein Löwenzahn im Asphalt müssen wir lernen, hier nicht nur zu überleben, sondern zu blühen.
Lizensierung
Theresa Leisgang und Larry Faust (2024) Creative Commons-Lizenz CC BY 4.0.
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1
In verschiedenen Workshops und Themenabenden lädt Kübra Gümüşay zum Beispiel ein, den Muskel der Imagination zu trainieren: https://www.theimaginationagency.org/.
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2
Gümüşay, Kübra (2022): „Unlearn Sprache“, in: Jaspers, Lisa/Ryland, Naomi/Horch, Silvie (Hrsg.): Unlearn Patriarchy – feministische Impulse für Wege aus dem Patriarchat, Hamburg: Ullstein.
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3
Gümüşay, Kübra (2020): Sprache und Sein, Berlin: Hanser.
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4
Vgl. Fisher, Mark (2009): Capitalist Realism. Is There No Alternative?, Winchester, UK: Zero Books.
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5
Vgl. Kimmerer, Robin Wall (2013): Braiding Sweetgrass. Indigenous Wisdom, Scientific Knowledge and the Teachings of Plants, Minneapolis, MN: Milkweed Editions.