Buchrezensionen von Matthias Fersterer, Theresa Leisgang, Svenja Nette und Etienne Lefebvre
Climate Endgame in der Literatur
Octavia E. Butler: Die Parabel vom Sämann ↓
In vielen Geschichten ist der Kollaps längst da – diese Autor*innen entführen uns in eine Welt jenseits von 1,5 Grad. Uns inspiriert besonders der Blick auf solidarische Handlungsspielräume, wie sie in (post-)apokalyptischer Fiktion noch viel zu selten ausgemalt werden. Die hier vorgestellten Werke sind eine Ausnahme, absolute Lese-Empfehlung!
Octavia E. Butler: Die Parabel vom Sämann
Rezension von Theresa Leisgang und Cléo Mieulet
Wir schreiben das Jahr 2024. Die Klimakrise, Wirtschaftskrisen und ein politischer Rechtsruck haben das Leben in den USA von Grund auf verändert. Wasserknappheit und Waffentraining in den Ruinen eines Failed State – zwischen diesen Polen bewegt sich der Alltag der Protagonistin Lauren Olamina in Parable of the Sower.[1] Mit ihrer Familie lebt sie immerhin noch relativ sicher vor Plünderungen in ihrer Nachbarschaft hinter hohen Mauern – für eine 16-Jährige ist sie erstaunlich mutig und weise. Sie erhält eine Prophezeiung, Visionen einer taoistisch anmutenden Natur-Religion, die besagt: „God is Change" –Gott ist Veränderung. Diese Prophezeiung ist ihre Ausrichtung, als sie Pläne schmiedet, in den Norden des Landes zu fliehen, wo die Auswirkungen der Klimakrise noch weniger gravierend sind.
Laurens Kalifornien von 2024, das sich Science-Fiction-Autorin Octavia Butler vor 30 Jahren ausgemalt hat, ist eine kaputte, ökologisch ruinierte – aber erschreckend real wirkende – Version unserer Welt.
Es hätte keinen besseren Zeitpunkt geben können, als dieses Jahr, um einen Lesekreis zur Parabel vom Sämann[2] zu starten. Inspiriert vom Podcast Octavia’s Parables[3] haben die Aktivistinnen Cléo Mieulet und Yari Or genau das getan: Einmal monatlich luden sie online zum Austausch über das Buch und die Thematik ein.
An einem grauen Novembertag spreche ich mit Cléo nochmal über diesen Impuls, den Roman gemeinsam zu lesen.
THERESA: Du bist seit Jahren aktiv im Community Organizing, hast verschiedenste Nachbarschaftsprojekte entwickelt und umgesetzt – war das Thema “Kollaps” für dich schon immer so präsent?
CLÉO: Ich sehe mich als Praktikerin, die Klimakatastrophenanpassung schon seit Jahren auf die Agenda setzt – oft habe ich mich da auch mit der Klimabewegung gerieben, weil den meisten nachbarschaftliches Organizing bis vor Kurzem völlig uninteressant schien. In der deutschen Gesellschaft ist Kollaps immer noch ein Tabu, wie es mir scheint, das ist in Frankreich, wo ich herkomme, ganz anders. Da gibt es inzwischen schon Filme fürs breite Publikum, in denen das Thema zwar humorvoll, aber auch ernsthaft durchgespielt wird.
THERESA: Und um das zu ändern, habt ihr eine offene Einladung ausgesprochen für den Lesekreis?
CLÉO: Ja, eine Motivation war sicher, das Thema auch nach außen zu tragen, weil ich dadurch auch meine eigene Einsamkeit, also politische Einsamkeit, bekämpfen konnte. Und ich bin überzeugt, dass wir das emotionale Bearbeiten der Weltlage gemeinsam sehr viel besser schaffen, an einem imaginierten digitalen Lagerfeuer.
Also diese Ängste formulieren, ja, da kommen vor allem viele Ängste, wenn es um Kollaps geht. Aber auch die Wut, die Ohnmacht, die diese ganzen negative Gefühle werden viel leichter auszuhalten, wenn wir sie in einen gemeinsamen Raum sprechen. Davon bin ich überzeugt.
THERESA: Wenn du von "Kollaps" sprichst, was ist dann deine Vorstellung?
CLÉO: Ich finde, im Buch ist das ganz gut portraitiert: Ein stetiges Schlechter-Werden, was mal abrupter kommt und mal aber auch sehr lange auf ähnlichem Level bleibt. Die prekäre Situation zeigt sich zum Beispiel dadurch, dass frische Lebensmittel ultra-selten geworden sind, außer du hast wie Laurens Familie einen Zitronenbaum, hast du eben keinen Zugang zu Vitamin-C-haltigen Lebensmitteln
und dann musst du halt damit klar kommen. Das ist heute schon für sehr viele deprivilegierte Menschen Realität, sowohl im globalen Süden als auch im globalen Norden. Kollaps ist ein sehr vielschichtiges Phänomen. Es hat soziale Aspekte, es hat physikalische Aspekte, es hat Infrastrukturaspekte. Der Waldbrand ist genausoKollaps wie dass Trump wieder gewählt wurde. Das sind alles Kollapsaspekte.
THERESA: Welche Stellen im Buch haben dich besonders berührt?
CLÉO: Es gibt ein Kapitel, das beginnt mit den Worten: „Es regnet.”[4] Dann kommt die Dankbarkeit und ein ganzes Kapitel über den ersten Regen, der nach sechs Jahren Trockenheit fällt. Das hat mich sehr an meine Gefühle in der Dürre 2018 in Brandenburg erinnert. Ich fand spannend, dass Octavia Butler trotz ihrer visionären Kraft einige Dinge nicht vorhergesehen hat, zum Beispiel die Zerstörungswut des Starkregens. In der Geschichte ist der Regen nur positiv konnotiert, negative Auswirkungen wie wir sie jetzt wieder in Spanien oder Österreich gesehen haben, kommen im Buch nicht vor. Hier hat die Wirklichkeit die Fiktion schon überholt…
THERESA: Gab es auch Szenen, die du so selbst noch nicht vorhergesehen hast?
CLÉO: An einer Stelle sagt Laurens Vater beim Waffentraining zur Gruppe aus der Nachbarschaft: „Ihr müsst das Schießen so gut beherrschen, dass ihr euch um zwei Uhr morgens genauso gut verteidigen könnt, wie um zwei Uhr nachmittags.” Für mich war das so ein wichtiger Reminder: Im Kollaps stellt sich die Frage nach Gewalt. Wie gehen wir mit Gewalt um? Wer wird von Gewalt betroffen sein? Was passiert, wenn ich bedroht werde? Welche Position beziehe ich, wenn die Community bedroht wird?
Ich hatte das Gefühl, die Auseinandersetzung gibt mir die Erlaubnis, einmall zu denken, dass es vielleicht nicht doof ist, wehrhaft zu sein. Bislang war es für mich immer ekelhaft, politisch wehrhaft zu sein – ich bin doch nicht wie Trumps Anhänger, die alle in der Waffe zu Hause haben.
THERESA: Ja, das ist eine spannende Frage: Kann ich an meinem Pazifismus festhalten?
CLÉO: Dieser Konflikt bleibt für mich bestehen, aber das Buch hilft mir, ihnirgendwie zu bearbeiten. Die Session im Lesekreis, in der wir dieses Thema aufgebracht haben, war sehr differenziert, das war inspirierend.
THERESA: Andrea Vetter und Matthias Fersterer beginnen ihren Artikel mit dem Zitat: “Die Post-Kollaps-Gesellschaft wird sich in einer Welt wieder finden, die nur wenig oder gar nicht mit der uns heute bekannten zu tun hat.”[5] Das habe ich selber auch beim Lesen von Octavia Butler oft gedacht.
CLÉO: Ja, es gibt da eine Stelle, die ich sehr, sehr mag. Lauren schreibt in ihr Tagebuch:
“Es ist nicht genug, zu überleben, vorwärtszuhumpeln und so zu tun, als wäre alles beim Alten, während die Dinge schlimmer und schlimmer werden.”
Ist das nicht eine schöne Ausführung der Idee „Kämpfen ist feiern"? Kämpfen bedeutet für mich auch: Es uns schön machen. Oft stellen sich die Leute nicht den schrecklichen Dingen in der Welt, weil sie denken, dann wird das Leben nur noch dunkel und traurig. Für mich ist die Aussage: „Es ist nicht genug, zu überleben”, in ganz vielen Szenen, Beziehungen im Buch präsent. Ich erlelbee das genauso: Ich finde so viel Freude in der Verbindung mit den Menschen zum Vorbereiten auf harte Zeiten.
Für mich ist schlussendlich Kollapsakzeptanz auch ein feministischer Call. Es ist die maskulinistische Weltordnung, die uns das alles eingebrockt hat, und wenn wir nicht aufpassen, werden die knapper werdenden Ressourcen auch nach dieser Ideologie verteilt. Sich darüber bewusst zu werden, könnte nützlich sein.
Ursula K. Le Guin: Immer nach Hause
Rezension von Matthias Fersterer
Werde ich gefragt, welche Lektüre Menschen auf dem Weg in eine Post-Kollaps-Gesellschaft des guten Lebens begründete Hoffnung schenken könne, dann antworte ich meist, ohne lange überlegen zu müssen: Always Coming Home von Ursula K. Le Guin (1929–2018). Dieses lang vor der Erfindung des Genres „Hopepunk“ erschienene Buch liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor.[6] Dass ich es gemeinsam mit Karen Nölle und Helmut W. Pesch deutschsprachigen Lesenden zugänglich machen durfte, betrachte ich als Geschenk des Lebens.
Wenn das Scheitern unserer Zivilisation unausweichlich ist, so fragte sich Le Guin vor vier Jahrzehnten, wie würde dann auf den Trümmern ebenjener kollabierten Zivilisation gutes Leben für alle sprießen können? Ihre Antwort ist keine Utopie im herkömmlichen Sinn. Le Guin fragte nämlich weiter: Wenn praktisch alle utopischen Gesellschaftsentwürfe seit Platon und Thomas Morus fortschrittsgetrieben, hell, hart und linear sind – dies nannte sie „Yang-Utopien“ –, wie sähe dann eine „Yin-Utopie“ aus? Wie sähe eine Zukunftsvision aus, die keine Heldenerzählung, sondern eine Beutelgeschichte wäre? Eine ebensolche erdverbundene, dunkle, weiche und zyklische Erzählung einer guten Zukunft ist Immer nach Hause.
Streng genommen ist dieser prall gefüllte literarische Beutel kein Roman, sondern eine fiktive Ethnografie: In Fundstücken, Liedern, Gedichten, Tänzen, mündlich überlieferten Erzählungen, Kochrezepten, Beschreibungen von Jahreskreisfesten, anthropologischen Betrachtungen, Karten, Diagrammen und einer eigenen Sprache samt Wörterbuch und Grammatik werden die Lebensweisen der Kesh detailliert beschrieben. Diese leben im Na-Tal, einer zukünftigen Version des kalifornischen Napa-Valley. Sie sind die Nachfahren der Überlebenden eines nicht näher benannten sozial-ökologischen Kollapses, den wir heutige Menschen des „militärisch-industriellen Zeitalters“ verursacht haben. Wie es zu diesem Kollaps gekommen sein wird, konnte die Autorin 1984 nur ahnen, gegenwärtig lässt es sich allenthalben in Echtzeit beobachten. Obwohl den Kesh dieses toxische Erbe in Form von verseuchten Landschaften, untergegangen Städten und Krankheiten durch Gendefekte stets präsent ist, beschrieb Le Guin Immer nach Hause als ihr „hoffnungsvollstes Buch“.
„Was werden wir getan haben, damit einmal ein gutes Leben sei?“
Durch die Handlung führt eine Erzählerin namens Pandora, die unschwer als Le Guins Alter ego zu erkennen ist. Während die Pandora des griechischen Mythos – zumindest in dessen patriarchalisierter Variante – vor allem dafür bekannt ist, aus ihrer sprichwörtlichen Büchse alles Unheil und Verderben in die Welt entlassen zu haben, sammelt diese „Allgeberin“ (von pān, „alles“, und dōron, „Gabe, Geschenk“) Funken, Splitter und Fragmente der Hoffnung in ihren Beutel hinein. Pandora stammt aus unserer, oder besser: Le Guins, Gegenwart. Sie bezeichnet sich selbst als „Archäologin der Zukunft“ und möchte die künftigen Lebensweisen der Kesh erforschen. Diese schwindelerregende Verschränkung der Zeiten kommt bereits im ersten Satz zum Ausdruck: „Die Leute in diesem Buch könnten einst lang, lang nach unserer Zeit in Nordkalifornien gelebt haben werden.“ Als archäologisch und kulturanthropologisch Forschende kann sich Pandora von Berufs wegen nur in der Vergangenheitsform äußern. Allerdings liegt ihr Forschungsgegenstand in der fernen Zukunft, so dass hier das Futur II auf das ethnologische Perfekt trifft. Die Vergangenheit und die Zukunft deuten zwei Arme einer Doppelspirale an, die sich im Scharnier der Gegenwart treffen. Die Doppelspirale, Heyia-if genannt, zieht sich sowohl gestalterisch als auch als zentrales Symbol der Kesh durch das gesamte Buch. Von Anfang an schwingt dabei diese Frage mit: „Was werden wir getan haben, damit einmal ein gutes Leben sei?“
Hinweise darauf finden sich in der Lebenspraxis der Kesh: Sie organisieren sich egalitär, matrilinear, ortszentriert und zyklisch. Alles, was ist, betrachten sie als gleichwürdig, wenn auch nicht gleichartig: auch Regenbögen, Landschaften, Tiere, Pflanzen sind „Leute“. Die Kesh integrieren Vielfalt und Widersprüche, lösen Konflikte beziehungswahrend, kennen kein Eigentum und führen keine Kriege. Viele ihrer Praktiken und Haltungen decken sich mit aktuellen Erkenntnissen aus Commonsforschung, Subsistenzperspektive und anarchistischer Anthropologie.
Wer sich nicht durch die fragmentarische und teils sperrige Darreichungsform dieses formal experimentellen Werks abschrecken lässt, wird reich belohnt: Die Fundstücke aus einer fernen Zukunft haben nicht nur viel mit der Vergangenheit, sondern auch mit unserer Gegenwart zu tun. Wir selbst werden darin als „rückwärtsköpfige Menschen“ beschrieben, die den gegenwärtigen Kollaps sehenden Auges verschuldet haben. Die Kesh appellieren an uns, stattdessen die Verantwortung für unsere künftige Ahnenschaft zu nehmen und hier und heute eine Welt Wirklichkeit werden zu lassen, in der sie einst geboren werden können. Es ist höchste Zeit, unsere Köpfe geradezurücken!
Dark Mountain Manifesto
Rezension von Svenja Nette
2019 sitze ich mit Jon auf dem dunklen Pier in Brighton, es ist kurz vor Juni und spät am Abend an diesem britischen Küstenort. Die Menschenmassen um uns herum kommen für Burger, Glücksspielautomaten und einen kurzen Blick auf den Ärmelkanal. Ihre Anwesenheit dringt kaum in unsere Blase ein, wir sind komplett eingenommen voneinander, gespeist von einer flirrenden Energie, die alles andere aus dem Fokus zurückdrängt.
Es ist der letzte Tag unserer Reise, die eine Ansammlung aufwühlender Monate abschließt. Monate, die diesen sich langsam steigernden Gefühlswahnsinn mitgemacht haben, Wochen in denen Jon in England war und ich krank vor Vermissen in meinem Berliner Zimmer auf dem Bett lag. Tage, in denen sich das erste Mal in meinem Leben der Wunsch in mir ausbreitete, mit einem Menschen, diesem Menschen, eine Zukunft aufzubauen, ein Kind in die Welt zu bringen, einen gemeinsamen Weg zu gehen. Es war auch in dieser Zeit, dass sich die Texte, Gespräche und Nachrichten häuften, die bezweifelten, dass wir die Klimaziele als Gesellschaft einhalten werden und immer öffentlicher spekulierten, was das eigentlich bedeuten könnte. Auf einmal war Fridays for Future überall in den Medien, um mich herum planten gefühlt alle zur Ende Gelände Aktion im Sommer zu fahren, und über Umwege fiel mir Brett Blooms Petro-Subjectivity[7] in die Hände. Bloom skizziert in diesem kleinen Büchlein ziemlich überzeugend, wie tief verstrickt unsere Lebensweise mit Erdöl ist und sanfte, freiwillige Übergänge in eine postfossile Zukunft illusorisch sind. Sein Fazit, dass wir notwendigerweise vor zutiefst destabilisierenden Veränderungen stehen, bescherte mir eine wachgelegene Nacht. Als ich am nächsten Morgen müde meinen Laptop aufklappte, stolperte ich innerhalb von Minuten über die Nachricht über gigantische Methanblasen, die sich aus dem auftauenden sibirischen Permafrost in die Atmosphäre entladen und dass wir somit womöglich einen ersten Tipping Point (of No Return) erreicht haben.
Irgendein Fass in mir lief über an diesem Morgen. Ich fing an zu weinen und konnte erst Stunden später auf dem Tempelhofer Feld wieder aufhören, das sich für mich im Berliner Stadt-Kosmos immer noch ausreichend annähernd nach Landschaft und Draußen anfühlte. Hier lag ich auf der harten Erde eines Trampelpfads, zwischen Trockengräsern und einer tiefen Gewissheit, dass viele Individuen unserer und anderer Arten mit großer Wahrscheinlichkeit unter die Räder kommen werden, aber Lebendigkeit als solches noch eine lange Weile auf dieser Welt sein und wirken wird, Schönheit und Leben hervorbringt, Wege findet.
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Dieser weit offene Blick in etwas Abgründiges klappte daraufhin ziemlich rasant wieder zu. Meine kommende Woche fühlte sich eigentlich an wie die meisten davor. Und trotzdem habe ich diesen Blick in die Tiefe nie vergessen, der ironischerweise vor Allem eine seltsame Art von Zuversicht und Neugier hinterließ. Teil jener Zeit war auch das Absterben meines Kinderwunsches, eine Klarheit, dass ich keinen zutiefst geliebten Menschen in dieses Leben bringen möchte, in solch wahrscheinliche Aussichten von Gewalt, Verlust und tiefer Unsicherheit. Gespräche darüber mit Jon waren schmerzhaft. Als ich eines Abends mit ihm erwähnte, dass ich mich ab und an frage, wie ich mir in Extremsituationen das Leben nehmen könnte wurde er wütend. Wütend auf die Welt und wütend darüber, dass wir solch absurde Gespräche führen müssen.
Trotz Allem trampen wir in diesem Frühsommer 2019 in tiefster Verbundenheit entlang der britischen Südküste, zwischen Pubs, dem singenden Land und Erschöpfungspausen dank viel zu schwerer Rucksäcke. An unserem letzten Abend stranden wir hier in Brighton und wollen beide keinen Abschluss finden, sitzen eine ewige Weile auf diesem besagten Pier, wo alles nach einer seltsamen Mischung aus Entertainment und Algen riecht. Ich rauche eine knittrige Zigarette von Jon, während er auf dem Handy einen Text liest, den ich ihm erwartungsvoll untergeschoben habe: das Manifest des Dark Mountain-Projekts,[8] veröffentlicht von zwei britischen Journalisten, die sich zufällig in der Kommentarzeile eines Blogs trafen. Paul Kingsnorth und Dougald Hine nennen sich „recovering journalists“, die 2007 tief resigniert aus ihrem Berufsstand ausgestiegen sind, müde davon, Geschichten von grünem Fortschritt und einer immer weniger glaubwürdigen Zukunft zu wiederholen. Zwei Menschen, die Narrative als eine Kernfunktion der menschlichen Welt setzen und dieses Handwerk nutzen wollen, um sie zu ändern:
"This is a moment to ask deep questions and to ask them urgently. All around us, shifts are under way which suggest that our whole way of living is already passing into history. It is time to look for new paths and new stories, ones that can lead us through the end of the world as we know it and out the other side. We suspect that by questioning the foundations of civilisation, the myth of human centrality, our imagined isolation, we may find the beginning of such paths." – Dark Mountain Manifesto
Das Manifest war ihr gemeinsamer Auftakt des Dark Mountain-Projekts, zugleich Anklage und ausgesprochene Einladung an die Welt, die lineare Weitererzählung von dem, was die Welt in den heutigen Zustand gebracht hat, zu unterbrechen. Sie wollten Geschichten versammeln, die einen ehrlichen Blick auf die hohen Wahrscheinlichkeiten von umfassendem ökologischem und ökonomischem Kollaps als Grundvoraussetzung haben, aber sich vor allem auf die Lebendigkeit Darin, sowie dem Daraus und Danach konzentrieren. Aus dieser Einladung entstanden nicht nur jede Menge Publikationen, voller Bilder, fiktiver und realer Geschichten, Gedichten und Interviews (gebunden, wunderschön gestaltet), sondern auch diverse Zusammentreffen, einige Festivals und unzählige Beziehungsfäden. Dieses wachsende Netzwerk von Menschen speiste sich vor allem aus der Kraft eines bislang nicht da gewesenen, erzählerischen Wegebaus durch kollabierende Zukünfte.
Auch für mich war das Dark-Mountain-Projekt eines der wichtigsten Fundstücke, die mir dieses fragenreiche Jahr beschert hatte. Es schenkte mir einen Blick hinaus über die Tiefe, hinein in das, was ich an jenem Frühlingstag 2019 auf dem trockenen Boden des Tempelhofer Felds gefühlt habe; die Hoffnung jenseits der Hoffnung:
"The end of the world as we know it is not the end of the world full stop. Together, we will find the hope beyond hope, the paths which lead to the unknown world ahead of us." [8]
Aaron Beaudry: Amid the Ashes
Rezension von Etienne Lefebvre
Romane über Kollaps folgen oft einem ausgetretenen Pfad: düstere dystopische Visionen, Geschichten von Überlebenden in einer zerstörten Welt. Beaudrys Amid the Ashes bricht mit dieser Konvention und bietet eine zutiefst menschliche Darstellung des Lebens nach dem Zusammenbruch der modernen industriellen Zivilisation. Bereits auf der ersten Seite wendet sich der Autor mit einer ehrlichen Notiz an seine Leser*innen und macht deutlich, dass dies kein typischer postapokalyptischer Roman ist:
„Es mag bedeutende Teile der Erzählung geben, die im Vergleich zu den meisten zeitgenössischen Werken der spekulativen Fiktion langsam, abschweifend oder sinnlos erscheinen. Ich halte es für wichtig, dass die Lesenden verstehen, dass dies eine bewusste künstlerische Entscheidung ist. Amid the Ashes handelt davon, Schönheit und Bedeutung in schwierigen und oft alltäglichen Umständen zu finden und zu schaffen. Die Herausforderung für die Lesenden spiegelt daher die Herausforderungen wider, denen sich die Figuren stellen.“
Diese offene Erklärung lädt die Leser*innen ein, sich der Geschichte mit Geduld und Offenheit gegenüber ihrem bewussten Tempo zu nähern. Auf diese Weise setzt Amid the Ashes neue Maßstäbe für die Kollaps-Fiktion, die nicht automatisch davon ausgeht, dass das Ende der Moderne den Beginn einer dystopischen Apokalypse bedeutet. Stattdessen präsentiert Beaudry den Zusammenbruch als eine tiefgreifende Veränderung – schmerzhaft und herausfordernd, aber voller Möglichkeiten zur Neuerfindung und Wiederentdeckung.
Aaron Beaudry lädt uns ein, den Zusammenbruch nicht als Ende, sondern als Übergang zu betrachten – ein Übergang, der uns das wieder entdecken lässt, was im Leben wirklich wichtig ist.
Die Geschichte spielt Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch globaler Lieferketten und der Auflösung moderner Institutionen und folgt dem Leben von Cian, einem Jungen, der auf einem autarken Gehöft in den Wäldern von Portland, Maine, in deen USA aufwächst. Seine Eltern, die den unvermeidlichen Zusammenbruch der Gesellschaft voraussahen, zogen sich dorthin aus dem Komfort des urbanen Lebens zurück, um sich auf eine ungewisse Zukunft vorzubereiten. Der Roman beschreibt Cians gesamtes Leben, von seiner Kindheit auf der abgeschiedenen Farm über prägende Momente des Erwachsenwerdens bis hin zu einer Zeit, in der er mehr und mehr Verbindungen zu nahegelegenen Gemeinschaften aufbaut. Durch Cians Augen erleben wir den langsamen Wiederaufbau einer Welt, die nicht mehr durch Massenkommunikation, Energie-Überfluss, ein stabiles Klima und industrielle Annehmlichkeiten geprägt ist.
Das Erzähltempo spiegelt die Rhythmen der dargestellten Welt wider: langsam, bedächtig und tief verwurzelt in den alltäglichen Realitäten des Lebens. Früh im Roman erkundet Beaudry den zentralen Widerspruch, mit dem die Familie zu kämpfen hat: die Notwendigkeit, durch Isolation eine gewisse Sicherheit zu bewahren, und gleichzeitig die Einsamkeit und Stagnation, die eine solche Isolation mit sich bringen kann. Diese Spannung wird besonders deutlich, als Cian und seine Schwester Sammie älter werden und immer neugieriger auf die Welt jenseits ihrer abgeschiedenen Farm blicken – eine Welt, von der ihre Eltern mit einer Mischung aus Vorsicht und Nostalgie sprechen. Ein entscheidender Wendepunkt tritt ein, als Sammie beschließt, Kontakt mit dem nahegelegenen Dorf New Eden aufzunehmen, trotz der Risiken. Durch diesen Moment unterstreicht Beaudry, dass bloßes Überleben nicht ausreicht: Um wirklich erfüllt zu sein, müssen wir Risiken eingehen, um Gemeinschaft zu finden und die Freiheit zu haben, jenseits der Sicherheit unserer Fesseln zu existieren.
Ein weiteres Beispiel für die Bedeutung, die Beaudry der Gemeinschaft beimisst, ist die Geschichte von Cians Tochter, die nach jahrelangen Experimenten eine widerstandsfähige Erbsensorte entwickelt, die unter schwierigen Bedingungen gedeihen kann. Der Erfolg dieser Ernte erfordert großen Arbeitseinsatz: Während der Erntesaison ist der Einsatz des ganzen Dorfes gefragt. Was als praktische Bemühung beginnt, die Ernteerträge in schwierigen Zeiten zu steigern, verwandelt sich in etwas zutiefst Bedeutsames: das erste Erntefest des Dorfes, eine ausgelassene Angelegenheit mit einem „Lord of the Peas“-Wettbewerb. Das Fest wird mehr als nur ein Zeichen landwirtschaftlicher Erfolge; es wird zu einem Zeugnis von Widerstandskraft, Freude und der Kraft, einen gemeinsamen kollektiven Zweck zu erschaffen. Wo es keine Ablenkungen der Moderne gibt, werden Menschen von dem angezogen, was wirklich zählt – ein scharfer Kontrast zur Zwecklosigkeit und Spaltung, die oft in unserer von Bequemlichkeit getriebenen, industriellen Welt zu finden sind.
Letztendlich ist Amid the Ashes ein Zeugnis für die Widerstandsfähigkeit des menschlichen Geistes und die dauerhafte Kraft und Schönheit menschlicher Beziehungen angesichts von Herausforderungen. Aaron Beaudry lädt uns ein, den Zusammenbruch nicht als Ende, sondern als Übergang zu betrachten – ein Übergang, der uns das wieder entdecken lässt, was im Leben wirklich wichtig ist. Durch den Fokus auf die Sinnfrage und Szenen von Schönheit, die in alltäglichen Kämpfen liegt, bietet der Roman eine zutiefst hoffnungsvolle Vision für die Zukunft – gerade angesichts des gesellschaftlichen Zusammenbruchs.
Lizensierung
Matthias Fersterer, Theresa Leisgang, Svenja Nette und Etienne Lefebvre (2024) Creative Commons-Lizenz CC BY 4.0.
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1
Butler, Octavia E. (1993): Parable of the Sower, New York: Four Walls Eight Windows.
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2
Octavia E. Butler (2023): Die Parabel vom Sämann, aus dem Englischen von Dietlind Falk, München: Heyne.
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3
Reagon, Toshi und adrienne maree brown: Octavia's Parables Podcast verfügbar unter https://www.readingoctavia.com/
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4
Butler, Octavia E. (2023): Die Parabel vom Sämann, München: Heyne, S. 76.
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5
Heimrath, Johannes zitiert in: (Post-)Kollaps und gutes Leben für alle, https://klima-kollaps-kommunikation.de/beitraege/post-kollaps-und-gutes-leben-fur-alle
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6
Le Guin, Ursula K. (2023): Immer nach Hause, Deutsch von Matthias Fersterer, Karen Nölle und Helmut W. Pesch, Wittenberge: Carcosa Verlag. E-book erhältlich unter: https://carcosa-verlag.de/unsere-buecher/immer-nach-hause/
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7
Bloom, Brett (2015): Petro-Subjectivity – De-Industrializing our Sense of Self, In: Breakdown Break Down Press. https://breakdownbreakdown.net/sdm_downloads/petro-subjectivity-de-industrializing-our-sense-of-self/.
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8
Kingsnorth, Paul und Dougald Hine (2009): Uncivilisation: The Dark Mountain Manifesto. https://dark-mountain.net/about/manifesto/.